Europa, die Europafrage, die Frage, ob die Schweiz der EU beitreten soll oder will oder muss, ist in den letzten Jahren fast ein Tabu-Thema gewesen. Jetzt stelle ich fest, dass Europa plötzlich wieder zum Thema wird. In den Medien (z.B. Alt-Staatssekretär Franz von Däniken heute im "Magazin"), aber auch wieder im privaten Kreis. Vielleicht ist es eine Auswirkung der Wirtschaftskrise, vielleicht die Angst einer zunehmenden Isolation den Schweiz. Auf alle Fälle zeichnet sich bereits ab, dass diese neue Auseinandersetzung mit dem Thema Europa in der Schweiz erneut eine Nabelschau sein wird. Endlose Diskussionen über Details, politisch hochstylisierte Mythen und Pseudo-Werte.
Als wohltuendes Gegenstück lese ich einen neuen Beitrag von Paragh Khanna, dem US-amerikanischen Politologen mit indischen Wurzeln. Eine Aussensicht. Khanna muss sich als Aussenstehender nicht mit der endlosen Zahl von micro-Problemen innerhalb der EU und ihren einzelnen Mitgliedsländern aufhalten. Er hat den Blick aufs Ganze. Das führt ihn zu einer äusserst positiven Wahrnehmung des modernen Europa. Khanna ist seit Jahren ein glühender Befürworter des "Europäischen Weges": Die EU als "supranationales Gebilde", das aber seinen Mitgliedsländern ein hohes Mass an Eigenständigkeit und Souveränität lässt. Im Gegensatz zum Modell des grossen "Nationalstaates" wie die USA, China oder Russland.
Das moderne Europa - die Europäische Union mit ihrer supranationalen Struktur - ist für Khanna das Modell, an dem sich die aufstrebende 2. Welt orientieren sollte.
Hier Parag Khannas Artikel aus dem "European" "Die softe Supermacht": (übrigens hat er das Thema in etwas anderer Form "Euro 2030: Vorwärts ins neue Mittelalter" bei IP variiert und er ist der Meinung, dass das Europäische Modell wohl zulasten des Amerikanischen, eben nationalstaatlichen Modells gehen wird.
Vorbild Europäische Union
Dank Europa bewegt sich die Welt auf ein neues Mittelalter zu. Doch dieses Mal sind die Aussichten alles andere als düster.
“Es gibt kein Europa, es gibt nur Europäisierung.” Mit diesen Worten haben zwei Politikwissenschaftler nicht nur die aktuelle Dynamik innerhalb Europas treffend beschrieben, sondern auch eine Strategie für die Supermächte des 21. Jahrhunderts vorgezeichnet. Wir bewegen uns auf ein neues Mittelalter zu – eine Zeit der vielschichtigen und vielköpfigen Regierungsformen. Europa hat diese Lebensart erfunden und bietet sich jetzt wieder als Modell derselben an. Genauso wie vor Jahrhunderten ist Europa auch heute eine bunte Ansammlung von Städten, Regionen, Staaten, Gewerkschaften, Unternehmen, Parlamenten, Kommissionen, Gerichten und Armeen. Doch dieses Mal sind alle Teil des gleichen politischen und judikativen Raumes, sie haben eine gemeinsame Währung und eine übereinstimmende Vision. In einer Welt, in der konkrete Orte leicht zu Angriffszielen werden, ist Europa mit dieser Besinnung auf Räume und Ideen gut bedient.
Doch noch sind wir nicht in dieser Zukunft angekommen. Die aktuellen europäischen Entscheider sind gefangen in kurzsichtigen Debatten über Verfassungsfragen und Machtverteilungen zwischen neuen und alten Mitgliedern. Sie sollten sich stattdessen auf Erprobtes besinnen: Strategien, die Ost und West näher zueinander bringen (durch höhere Wachstumsraten in Osteuropa) und Demokratisierung (die zunehmend unter den neuen Mitgliedern starken Anklang findet). Um es anders auszudrücken: Auf den zweiten Blick hat die Expansion Europas viele Vorteile. Nicht zuletzt wird die demografische Entwicklung Europas durch die Integration von einhundert Millionen arbeitenden Menschen in den Wirtschaftsraum teilweise aufgewogen.
Es mag klischeehaft klingen, doch Europas Erfolgsgarantie ist die Selbstwahrnehmung als “softe” Superpower. Bereits heute sind die Grenzgebiete der EU in Nordafrika, der Türkei und Russland durch Handelsexporte und ausländische Investitionen zu mehr als zwei Dritteln von Europa abhängig. Gleichzeitig bieten diese Regionen die Energiereserven, die Europa in den kommenden Jahrzehnten benötigen wird. Diese Entwicklung wurde nicht durch den Barcelona-Prozess ausgelöst – und schon gar nicht durch die komplizierten Gespräche mit der Türkei. Die Ursache ist an anderer Stelle zu suchen: Europas Geografie ist gleichzeitig Europas Schicksal; und die EU hat genügend monetäre Macht, um die Spielregeln dieser Entwicklung zu bestimmen.
Das U.S. National Intelligence Council hat den Erfolg Europas bereits akzeptiert. Im “2020 Report”, einer Prognose der weltpolitischen Dynamik des kommenden Jahrzehnts, schreibt das Council: “Europas Stärke liegt darin, Vorbild zu sein für Modelle der globalen und regionalen Regierungsführung. Die EU wird von der NATO die Rolle der europäischen Leitinstitution übernehmen und gleichzeitig die Rolle der Europäer auf der globalen Bühne definieren.” Auf dem diesjährigen Weltwirtschaftsforum in Davos haben sowohl chinesische als auch amerikanische Delegierte darauf gedrängt, sich mehr am europäischen Modell zu orientieren. Obamas Pläne zur Reduktion von klimaschädlichen Emissionen sind ebenfalls “in Europa gemacht.” Die Verbreitung der Demokratie durch eine Stärkung transparenter Regierungsformen – auch das ist der Europäische Weg. Und in Lateinamerika, Ostasien und sogar in Afrika werden europäische Formen von grenzüberschreitendem Handel und Investitionen kopiert.
Die EU wird oftmals zerredet und zur Initiative aufgefordert. In Wahrheit müssen die Europäer nur an bereits bestehenden Praktiken weiterarbeiten.
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