Sonntag, 19. Februar 2012

Die unbeachtete Revolution: Das neue Christentum

Ougadougou (Burkina Faso) Nov. 2011 (Bild: 3Afilm.ch)
Die westliche Welt taumelt von Krise zu Krise. Zusehends zeichnen sich neben den wirtschaftlichen auch soziale Probleme ab. Die Schere zwischen unten und oben öffnet sich immer weiter.  Inzwischen ruft sogar der Weltwirtschaftsgipfel von Davos zur Suche nach Lösungen, zum Umdenken auf. Weil man aber „ein Problem nicht mit der Denkweise löst, die es erschaffen hat“, wie schon Einstein wusste, scheint jeder neue Gipfel der Mächtigen die Krise eher zu verlängern als einer Lösung näher zu bringen. Während das herrschende Establishment weiterhin „rat- und orientierungslos“ ist, wie das „Handelsblatt“ schreibt, ist längst eine unbeachtete „Revolution von unten“ im Gang.

Brasil-Fussball-Star Kaka
Von der westlichen Öffentlichkeit höchstens punktuell als Exotikum wahrgenommen, ist eine politisch-soziale Bewegung aus dem globalisierten Süden daran, ihre Lösung weltweit durchzusetzen: das neue Christentum.

Schwerpunkt des neuen Christentums ist der globale Süden
Längst lebt die Mehrheit der Christen dieser Welt im globalen Süden. Die am schnellsten wachsenden Religionsgemeinschaften  sind die neo-protestantischen Kirchen (Pfingstkirchen, charismatische Kirchen).

In Brasilien, eine der neuen Führungsmächte des Südens, wird bis 2020 die Hälfte der Bevölkerung Mitglied und Anhänger evangelikaler Kirchen sein. Und in Afrika explodieren die Zahlen der „wiedergeborenen Christen“ seit rund 20 Jahren geradezu. Auch hat die neue christliche Bewegung längst Asien erreicht. Die grössten evangelikalen Kirchen der Welt gibt's heute in Südkorea, das prozentual zu seiner Bevölkerung mehr christliche Missionare in die Welt schickt als jedes andere Land.

Massenzulauf erhalten die sogenannt charismatischen Kirchen auch in andern asiatischen, besonders bevölkerungsreichen Ländern. Nicht zuletzt in China. Die Prognose: China werde bis in 30 Jahren das Land mit den meisten evangelikalen Christen der Welt sein.

Das rasante Wachstum verdanken die charismatischen Kirchen einerseits der demographischen Entwicklung in ihren Kernländern mit ihren meist grossen Geburtenraten. Eine zentrale Rolle spielt aber auch die Konversion. Immer häufiger konvertieren auch Muslime in Asien und sogar in Nordafrika zum neuen, fundamentalistischen Christentum.

Eine politische Macht
Die christlich-evangelikale Bewegung ist im globalen Süden inzwischen eine Macht, an der niemand mehr vorbei kommt. Dies hat zum Beispiel Dilma Rousseff ,  die Präsidentin Brasiliens schmerzlich erfahren müssen:
Anti-Dilma PR, Brasilien 2010
Ihre scheinbar unbestrittene Wahl zur Präsidentin war 2010 plötzlich gefährdet, weil die evangelikalen Kirchen sie wegen ihrer Haltung in der Abtreibungsfrage als nicht-wählbar bezeichneten. Dilma musste öffentlich zu Kreuze kriechen und ihren Pläne für eine Liberalisierung des Schwangerschaftsabbruchs öffentlich abschwören.


Die Strategie: Integration der marginalisierten Massen
Die unzähligen Prediger, die sich rund um den Globus berufen fühlen, Kirchen zu gründen, rekrutieren ihre Mitglieder in erster Line bei den Verlierern der Globalisierung:
"Kreuzzug" Niger 2011 (Bild: 3Afilm.ch)
den Slumbewohnern, Frauen, Junkies, Alkoholikern. Diese Rekrutierungs-Basis der bisher vom "Segen des Fortschritts" der liberalisierten Welt mit ihrer "freien" Marktwirtschaft ist riesig.
Inzwischen lebt mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung in städtischen Agglomerationen, und davon wiederum mehr als die Hälfte in Slums, den Abfallhalden der Globalisierung. Aus diesen Lebensräumen hat sich der Staat weitgehend zurückgezogen und seine Dienstleistungen auf ein Minimum beschränkt. Das entstandene Vakuum füllen religiöse Organisationen.  In Südamerika, Afrika und zunehmend auch in Asien verrichten die neuen evangelikalen Kirchen die notwendige Sozialarbeit. Sie betreiben Schulen, Spitäler, Sportvereine und sorgen wenn nötig auch für die Basis-Infrastruktur in den lebenswichtigen Bereichen Verkehr, Wasser und Abfall. Sie mildern damit die bitterste Armut.
Mit dem  Aufstieg der ehemals Armen zu einer neuen Mittelklasse sind die "Evangelicos" längst nicht mehr nur die "Kirche der Armen". Sie sind der Motor des rasanten Aufschwungs des globalen Südens und gelten als Schlüssel für den wachsenden Einfluss der "Schwellenländer" in der zunehmend multipolaren Welt. Viele der mehr oder weniger "Neureichen" sind überzeugt, dass sie ihren sozialen Aufstieg nicht zuletzt auch dem Umstand verdanken, Miglieder der neuen Kirchen zu sein und nach den christlichen Prinzipien zu leben. Sie haben häufig ein ausgeprägtes Bedürfnis, Zeugnis abzulegen von ihrer "Bekehrung" und dem tieferen Grund ihres Erfolgs. Damit sind sie gleichzeitig mächtige Promotoren der neuen christlichen Bewegung.

Das Angebot: Neu anfangen können, dazu gehören
Das wichtigste Gut, welches die religiösen Organisationen den Marginalisierten bringen, ist psychologischer Natur.
"Kreuzzug" Burkina Faso 2011 (Bild 3Afilm.ch)
Das Angebot, das sie denen machen, die sich bisher von der Welt ausgeschlossen und ohne Zukunft fühlten, scheint unschlagbar: "Du kannst Dein bisheriges Leben hinter Dir lassen, neu anfangen". "Reborn - wiedergeboren" heisst die Formel. Es ist das Versprechen, künftig dazu zu gehören, teilzuhaben. Die bisher Ausgeschlossenen fühlen sich als Teil einer Gemeinschaft mit klaren Strukturen und Regelungen. Sie sind Teil einer Bewegung, die erfolgreich ist, auch ausserhalb der Slums. Die Kirchen sind damit der Strohhalm, die Chance, auf die die Marginalisierten kaum mehr zu hoffen wagten. Sie bieten ihnen eine konkrete praktische Perspektive. Einige Kirchen predigen das "Wohlstandsevangelium", sie versprechen den Gläubigen schlicht den materiellen Wohlstand.

Das Programm: Arbeit, Disziplin, Familie
Das Dazugehören und das Versprechen auf materiellen Wohlstand hat seinen Preis: Wer "wiedergeboren" sein will, muss das Programm der neuen christlichen Bewegung befolgen. Das Programm heisst Wiederbelebung der christlichen (sittlichen) Werte und insbesondere der alten protestantischen Tugenden: Arbeit, Disziplin, Familie.
„John Calvin ist mein Held“, sagt Sunday Adelaja, einer der zahlreichen Prediger aus dem Süden. Was der Reformator in Genf im 16. Jahrhundert erreicht hat, sei "das Vorbild": Die Veränderung der Gesellschaft auf der Basis der christlichen Prinzipien.

Pastor Sunday, Kiev 2012 (Bild: Contextlink)
Der aus Nigeria stammende Pastor Sunday Adelaja ist der erste Kirchengründer aus dem Süden, der es in Europa geschafft hat, auch die weisse Bevölkerung zu erreichen. Während andere Prediger vorerst in der Diaspora der Migranten aus den südlichen Ländern verankert sind, sind 99% der Mitglieder von Pastor Sundays Kirche  „Embassy of God“ weisse Europäer, Ukrainer. Mit aktuell rund 25'000 Mitgliedern ist die Botschaft Gottes in Kiev wohl gleichzeitig eine der grössten neuen Kirchen in Europa überhaupt und ein Beleg dafür, dass die Bewegung sehr wohl auch daran ist, in Europa Fuss zu fassen.

Global marktfähig
Mit ihrer fundamentalistischen Religiosität, ihrer Bibelwort-Gläubigkeit und ihren oft neo-konservativen Positionen (z.B. in ihrer Ablehnung der Homosexualität) erscheinen die neuen Christen westlichen, "aufgeklärten" Intellektuellen als unmodern und rückwärtsgewandt, vergleichbar mit dem Rechtsrutsch politischer Parteien.
Dag Heward-Mills, Burkina Faso 2011 (Bild: Contextlink)
Das neue Christentum ist aber keineswegs eine ablehnende Reaktion auf die Globalisierung. Im Gegenteil: Sie ist eines ihrer Produkte und perfekt aufgestellt für die globalisierte Welt:
Sie ist extrem flexibel und auf alle Kulturen anpassbar. Mit ihren einfachen Botschaften und einem diesseitigen, kurzfristigen Heilsversprechen ist der Evangelikalismus inzwischen weltweit lokal ("glokal") verankert und global marktfähig. Verächtlich nennen sie Kritiker deshalb auch „McChurch“. Aber das Produkt verkauft sich weltweit ausgezeichnet.

Warum? Weil es keine zentralen Strukturen, weder Kurie noch eine einheitliche Doktrin gibt.
"Kreuzzug" Niger 2011 (Bild: 3Afilm.ch)
Die einzelnen Kirchen und ihre charismatischen Führer operieren völlig unabhängig voneinander, oft sogar in heftiger Konkurrenz zueinander. Gleichzeitig verstehen sie sich aber als Teil einer weltweiten Bewegung und geben ihren Mitgliedern das Gefühl, zu einer Art Avant-Garde der Moderne zu gehören.
Sie vermitteln jedoch generell die gleichen Inhalte und praktizieren vergleichbare, dem Action- und Unterhaltungsbedürfnis ihrer lokalen Anhängerschaft entsprechende Formen.

"Kreuzzug" Burkina Faso 2011 (Bild: 3Afilm.ch)
Dabei nutzen die grössten und erfolgreichsten Kirchen der neuen  Bewegung die Mittel der massenmedialen Kommunikation meisterhaft. Damit sind sie fähig, global zu wirken und ihre Anhänger jederzeit weltweit zu erreichen.

Als staats- und kulturübergreifende Bewegung ohne territoriale Bindung können die international operierenden neuen Kirchen auch nicht durch irgendwelche nationalstaatliche Kontrollen eingeschränkt werden.

Fahnenträger der globalen (westlich-amerikanischen) Kultur
In ihrer supra-nationalen, eben nicht territorial oder national gebundenen Natur, ist die neue christliche Bewegung vergleichbar mit der Davos-Kultur, der globalen Gemeinschaft der internationalen Finanz-und Wirtschaftseliten. Beide Bewegungen propagieren und verbreiten dieselben Werte. Es sind die Prinzipien auf der die moderne westliche Kultur steht: Individualismus, Selbstverantwortung, Meritokratie, Kapitalismus, freie Marktwirtschaft und Demokratie.

Und damit fasziniert das neue Christentum definitiv als ganz besonderes Phänomen. Das neue Christentum ist nicht nur ein Produkt, sondern auch ein Faktor der (westlichen)  Globalisierung:
Die erste grosse soziale Bewegung, geboren aus den Abfallhalden der Globalisierung, ist einer der wichtigsten Garanten der westlichen, globalen Kultur unserer Zukunft (?). Der vom reichen Norden seit Jahrhunderten ausgeblutete und im Stich gelassene Süden sichert die anhaltende und weiter zunehmende kulturelle Dominanz des Westens/Nordens in der neuen multipolaren Weltordnung.
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