Montag, 12. April 2010

Johann Peter Hebel, 250: Boulevardisierung um 1800.


Wenn man wieder mehr Leser erreichen wolle, habe man sich "in Inhalt, Ton, und äusserer Gestaltung, den Wünschen und dem Geschmack der Käufer, sprich: des Volkes anzunähern".
Dies ist keine Aussage aus der PPPräsentation eines teuren Beraters irgendeiner Schweizer Verlagsleitung heute, sondern die zentrale Botschaft von Johann Peter Hebel 1806 an seine Obrigkeit in seinem "unabgeforderten" Gutachten zur Sanierung des zusehends unpopulären Badischen Landkalenders.

Wir haben heute die Krise der Printmedien, um 1800 gab's die Krise des damaligen Massenmediums, des Kalenders. Das Rezept gegen die Krise war dasselbe damals wie heute, 200 Jahre später: Boulevardisierung: "... dem Unterhaltungsbedürfnis der Leser entgegenkommen."

Exkurs: Johann Peter Hebel war seines Zeichens einer der weit bis ins 20. Jahrhundert meistgelesen "Volks"-Dichter im deutschsprachigen Raum. Seine Kalendergeschichten wie "Kannitverstan" oder "Zundelfrieder" fanden sich noch in den Schullesebüchern unserer Eltern.

Am 10. Mai feiern wir - zumindest in der Region Basel - den 250. Geburtstag des grossen deutschen Dichters, Pädagogen und Theologen aus dem südbadischen Wiesental, der einen Teil seiner Kindheit in Basel verbracht hat. Heide Helwig hat eben eine neue wunderbare Biographie Hebels geschrieben, in der sie auch über seine Rolle als Chefredaktor des "Rheinländische Hausfreunds", dem badischen Land- und Volkskalender und seine Sanierung erzählt. (Und alle Zitate in diesem Contextlink-Beitrag stammen aus diesem Buch).


Kalender waren um 1800 neben Bibel und Gesangbuch der wichtigste und oft der einzige Lesestoff in den meisten Haushalten. Der jeweilige Kalender hing damals auch wie eine Zeitung als Lektüre für jedermann an einem Haken in Wirtshäusern und Poststationen. Zeitweise gab es sogar einen Kaufzwang für alle Haushalte. Weil der Badische Landkalender aber offensichtlich "am Leserinteresse vorbeiging", weigerten sich gemäss Helwig 1801 zahlreiche Bürger trotz Strafandrohung, den Kalender zu kaufen. Das für den Kalender zuständige Kirchenratskollegium in Karlsruhe hat deshalb eine Konferenz "zu Bezweckung einer künftig besseren Einrichtung des badischen Landkalenders" einberufen.

Hebel schlug in seinem Gutachten zuhanden des Kollegiums (dem Hebel übrigens persönlich angehörte) ein ganzes Massnahmenbündel vor, das "Inhalt, Gestaltung, Namen, Preis unter die Lupe nimmt." Das klingt wie aus einer aktuellen Powerpoint-Präsentation eines Schweizer Verlages.
Hebels Verbesserungsvorschläge lesen sich wie das Konzept eines modernen Boulevardmagazins: eigene, neue Beiträge schaffen, dem Unterhaltungsbedürfnis der Leser entgegenkommen, medizinische Themen, Land- und Gartenbau, Ratgeber, allerhand Praktisches, Planetenkonstellationen, politische Begebenheiten, Mord, Diebesgeschichten, Naturerscheinungen, edlen Handlungen und witzige Einfälle.
Was fehlt sind einzig die Promigeschichten. Ob der Badische Markgraf für eine Homestory hergehalten hätte, muss offen bleiben. Offensichtlich wäre damals niemand auf die Idee gekommen, ihn zu fragen.

Auch bei der optischen Gestaltung empfahl Hebel Elemente, die vertraut wirken:
Bilder (Holzschnitte) und "viel Rot" zur Kennzeichnung von wichtigen Informationen.

Hebels Argumente haben seine Obrigkeit ganz offensichtlich überzeugt: Sie haben Hebel gleich zum Chefredaktor des Massenmediums gemacht. Das war umso naheliegender, als das "Gymnasium illustre" in Karlsruhe, an dem Hebel als "Professor" unterrichtete und dessen Rektor er später wurde, auch das herzogliche Privileg der Herausgabe des Kalenders innehatte.
Eine der Massnamen Hebels zur Neulancierung des badischen Kalenders war ein neuer Name: "Rheinländischer Hausfreund." Warum er den klar lokal-regionalen Bezug zum "Badischen" fallen liess, weiss auch Hellwig nicht.

Jedenfalls ging Hebels Konzept auf. Der "Rheinländische Hausfreund" war nicht zuletzt auch ein ökonomischer Erfolg. Die Auflage stieg und der Kalender wurde wieder sehr gut verkauft. Davon profitierte auch das Gymnasium illustre. Es konnte die Pachtsumme, die es von Drucker und Verleger erhielt, "um mehr als das doppelte erhöhen."

Doch damit genug des boulevardesken Kokettierens.
Tatsächlich könnte der Unterschied von Hebels "besseren Einrichtungen" zur heute überhandnehmenden Boulevardisierung der Medien gar nicht fundamentaler sein. Denn - anders als die Medienverantwortlichen heute - der Pädagoge und Theologe Hebel verfolgte ein hohes moralisches Ziel: Die Artikel und Geschichten sollten nicht nur "populär-ästhetisch", sondern auch "moralisch fruchtbar" sein. Nicht der kommerzielle Erfolg war das Ziel, sondern die Bildung, die "Belehrung", "das Erzieherische". Hebel war bloss klug genug, dies zu "maskieren" und "nicht an die grosse Glocke" zu hängen: "Die Absicht zu belehren und zu nützen sollte nicht voranstehen, sondern hinter dem Studio placendi masquirt, und desto sicherer erreicht werden."
 Der "Grundsatz des rezipientenorientierten Schreibens" war ihm nur ein Mittel zum Zweck: "Statt die Vorlieben des Publikums zu verachten und zu beleidigen, sollte man sie zum 'Vehikel' machen für die wahren Zwecke des Kalenders."

Damit lag Hebel anfangs des 19. Jahrhunderts ziemlich genau auf der publizistischen Linie des Schweizer Fernsehens Ende des 20. Jahrhunderts: "Soviel Boulevard wie nötig, soviel Info wie möglich" hiess diese Formel beim Schweizer Fernsehen in den 90er Jahren, auch wenn dies so nie explizit offiziell formuliert wurde. Aber wir Redaktoren von der Relevanz-Fraktion mussten damals verstehen, dass wir die immer häufigeren Boulevardgeschichten für die Quote brauchten, wenn wir überhaupt überleben wollten. So nach dem Motto: drei Promi-Geschichtchen und 2 Wittwenschüttler = ein Hintergrundbericht zu Bosnien oder Afrika.
Die relevanten Themen wanderten zuerst ans schlechtere Ende der Sendung, dann brauchte es einen Schweizer "Aufhänger", dann wurden's immer weniger und ...

Heute geht es den grossen Schweizer Verlagen und ihren Verantwortlichen nicht mehr um die Inhalte. Information ist bloss noch eine Ware, ein Produkt das verkauft werden muss. Heute ist der "Inhalt" das Mittel zum Zweck. Man gibt nur vor, Inhalte zu transportieren. Das Ziel ist nicht die Information (und schon gar nicht die Bildung oder Belehrung), sondern die Quote, die Auflage, die Verkaufszahl. Ziel ist es, möglichst viele Leser zu erreichen, weil entsprechend viel Werbung verkauft werden kann. Die Formel der Marketing- und Verkaufs-Leute der Verlage gegenüber dem Werbekunden heisst: Wieviele Kunden erreiche ich pro eingesetztem Werbefranken.

Hebel würde sich in seinem Schwetzinger Grab umdrehen, wenn er wüsste, dass er in einem Atemzug mit den heutigen medialen Publikationen genannt wird.

Keine Kommentare: