Mittwoch, 3. März 2010

Die Lektion aus Chile: Der Schritt zum Chaos ist nicht weit.


Chile macht unsicher.
Zuerst muss nüchtern betrachtet festgestellt werden, dass Chile angesichts der Gewalt des Erdbebens und der anschliessenden Flutwellen noch glimpflich davongekommen ist - auch wenn dies angesichts von mindestens 700 Toten und der dramatischen Bilder, die uns die Medien täglich präsentieren, zynisch klingen mag. Das Erdbeben in Chile war 50-mal stärker als das Beben von Haiti im Januar, aber es gab rund 1000-mal weniger Tote. Der grosse Unterschied:
Chile war auf ein grosses Erdbeben vorbereitet. In Chile gibt es strenge Bauvorschriften, die meist eingehalten werden, speziell auch in Armenvierteln. Es gab Notfallpläne, Informationen und Schulungen für die Bevölkerung. Vor allem aber ist Chile ein moderner Staat mit funktionierenden staatlichen Einrichtungen und Behörden.
Natürlich funktioniert nicht alles, natürlich wurden und werden auch in Chile gravierende Fehler gemacht, natürlich müssen Lehren gezogen werden. Aber insgesamt muss sich der Staat Chile wohl nicht viel vorwerfen.

Chile hat eigentlich (fast) alles richtig gemacht. Aber gerade deshalb verunsichert Chile. Trotz all der Vorsorge, trotz der funktionierenden Organisation bis hin zum Einsatz des Militärs: Die am schlimmsten betroffenen Regionen stehen am Rande des Chaos. Es droht eine "soziale Explosion". In der Grossstadt Concepcion gilt nachts eine Ausgangssperre, es kommt zu Plünderungen und gar zu Schiessereien. Nur mühsam können die Ordnungskräfte (Polizei und Militär) die öffentliche Ordnung aufrecht erhalten.

Das ist sehr beunruhigend, nicht nur für Chile heute, sondern für uns alle. Denn diese Unruhen sind NORMAL. Wir müssen davon ausgehen, dass sich in einem vergleichsweisen Fall auch bei uns sehr Ähnliches abspielen würde.

Washington im Januar
Einen kleinen Vorgeschmack erlebte ich Ende Januar in der politischen Machtzentrale der Welt, in Washington DC: Schon die Ankündigung eines Schneesturms führte zu Panikkäufen der Bevölkerung. Als der Schnee (ein halber Meter) dann kam, stand die Welt zuerst still. Die Leute gingen nicht mehr zur Arbeit, der öffentliche Verkehr brach genauso zusammen wie in Teilen der Region der Strom. Als der Verkehr wieder zu funktionieren begann, lagen die Nerven bei vielen Menschen blank: In den Bussstationen des Greyhound herrschte eine aggressive Stimmung, und im Stau steckengebliebene Autofahrer prügelten sich.

Es braucht offenbar nur wenig, bis die öffentliche Ordnung zusammenbricht.

Ein Schneechaos geht meist schnell vorbei. Auch ein Erdbeben ist ein relativ "kurzes Ereignis". Es kann bewältigt werden, die Schäden werden repariert, dann ist das akute Ereignis vorbei. Es sind jedoch Situationen möglich, die langandauernde Notstände mit kaum vorstellbaren sozialen Folge-Ereignissen bringen.

Krisenszenarien Schweiz
Noch vor wenigen Jahren spielte man bei der Krisenvorsorge des Bundes in der Schweiz Katastrophenszenarien (zum Beispiel für nukleare Verstrahlungen oder für Terroranschlägen mit biologischen Waffen) in sogenannten Gesamtverteidigungsübungen (GVU) durch. Wir walzten damals im "Stab Bundesrat", der inzwischen abgeschafften militärischen Organisation der Bundeskanzlei, diese Szenarien fast genüsslich aus: Fluchtbewegungen der Bevölkerung, Kampf um Schutzplätze, Strassensperren, Versorgungsengpässen, etc..

Solche Szenarien sind offenbar viel realistischer als wir uns damals ausgedacht hatten.
Robin Cook, der Autor des Bestseller "Outbreak" (deutsch: "Virus")hat in der Novemberausgabe der Zeitschrift "Foreign Policy" einen Plot für einen Roman mit dem Titel "The Plague" (die Pest) vorgestellt, die er als Warnung, als Aufforderung zur aktiven Vorbereitung auf eine solche Katastrophe verstanden haben wollte:

Roman-Plot: "Die Pest"
Robin Cook entwickelt das Szenario einer gigantischen, biologischen Katastrophe, einer Pandemie, welche weltweit Millionen von Menschen nicht nur bedroht, sondern auch in kürzester Zeit tötet. Die Ingredienzen für diese neue Pest sind laut Cook längst vorhanden. In einem chinesischen Schweinestall lässt der Autor in seinem Plot das Schweinegrippe-Virus sich mit dem extrem gefährlichen Vogelgrippevirus kombinieren. Wenn entweder das für Menschen extrem gefährliche Vogelgrippevirus (60 Prozent Todesrate/Lethalität) die Fähigkeit der leichten Übertragbarkeit auf den Mensch, oder das Schweinegrippevirus die Lethalität des Vogelgrippevirus übernähme, käme es unweigerlich zur weltweiten Pandemie, gemäss Cook mit der mittelalterlichen Pest vergleichbar: Es käme zum "infektuösen Holocaust".

Chaos
"Regierungen und Individuen werden verzweifelte Aktionen ergreifen, einige vernünftig, andere weniger." Vielleicht, schreibt Cook, gäbe es Regierungen, die die Armee aufbieten würden, um die Grenze zu schliessen. Oder es würden aus infizierten Regionen flüchtende Menschen mit Waffengewalt ferngehalten. Spitäler würden zuerst von Hilfesuchenden überflutet und dann geschlossen werden, weil sie selbst Herd weiterer Ansteckungen sein werden. Menschen würden sich in ihren Häusern verschanzen, um nicht mit ihren möglicherweise angesteckten Nachbarn in Kontakt zu kommen. Die Leute gingen nicht mehr zur Arbeit, der öffentliche Dienst, das ganze Geschäftsleben, der Verkehr und die Lebensmittelversorgung würden zusammenbrechen. Ordnungskräfte in Schutzanzügen, falls überhaupt noch Menschen Polizisten zur Arbeit gingen oder Leute sich überhaupt noch organisieren liessen, würden verzweifelten Menschenmassen gegenüber stehen, die notfalls auch mit Gewalt versuchten an Medikamente, frisches Wasser oder Lebensmittel heranzukommen. Nicht nur Supermärkte würden geplündert, auch Bauernhöfe und die Notvorräte des Nachbarn: Das totale Chaos, Anarchie mit Szenen Chile-hoch-drei! In solchen Fällen gilt das Recht des Stärkeren, Mord und Totschlag. "Das Schlechteste im Menschen wird zum Vorschein kommen", schreibt Cook.

Fazit:
Das Szenario scheint überzeichnet düster. Aber zumindest halten die Wissenschafter die Ursache für Cooks Roman-Plot - die Neukombination von Krankheitserregern zu einem Supervirus - für realistisch.
Heute lache ich nicht mehr über unsere militärischen Krisenszenarien, auch die Bilder aus Chile erhalten einen sehr unangenehmen, persönlichen Beigeschmack: Der Schritt zum Chaos ist auch bei uns nicht weit.

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