Bild privat: Contextlink Autor in Istanbul
Für Stratfor-Herausgeber George Friedman ist schon lange klar, dass die Türkei zu einem der wichtigsten politischen Player im 21. Jahrhundert wird. Für Parag Khanna ist die Türkei schlicht
"der mächtigste, demokratischste und säkularste Staat in der islamischen Welt" ("Der Kampf um die 2. Welt" S. 83). Die Türkei ist heute schon eine Wirtschafts- und Militärmacht. Sie gehört zu den 20 grössten Volkswirtschaften dieser Welt mit besten Wachstumsprognosen. Ausser der USA hält keine NATO-Land mehr aktive Soldaten unter Waffen wie die Türkei.
Zentrale Argumente der Türkei-Euphoriker sind die geographische Lage als Brücke zwischen Europa und Asien, damit verbunden die Vermittlerrolle zwischen der christlichen und muslimischen Welt und die Tradition, die Geschichte des Osmanischen Grossreichs.
Skeptischer ist man in der Türkei selbst: Das Land sei viel zu sehr mit sich selbst, mit innern Problemen beschäftigt, um eine aktive Rolle zu spielen, wenn sie denn überhaupt wollte.
Eine wie mir scheint sehr gute Gesamtsicht liefert das Central Asia-Caucasus Institute mit seinen "Silkroadstudies": "Prospects for a ‘Torn’ Turkey: A Secular and Unitary Future?" (Download hier).
Die letzten Monate haben einige Beispiele der inneren Unreife des Landes geliefert (u.a. der Fall "Ergenekon"), aber es hat sich auch gezeigt, dass die Türkei daran ist, viele seiner alten Probleme zumindest aktiv anzugehen. Vor allem zeigt sich, dass die Türkei von den wichtigsten künftigen Partner und Nachbarn im Grossraum zwischen Asien und Europa als künftiger Player akzeptiert, wenn nicht gar gesucht wird:
Die Grossmächte hofieren der Türkei
Im April hat der neue US-Präsident Barack Obama die Türkei als erstes muslimisches Land überhaupt besucht und dessen Wichtigkeit für die Verbindung zwischen der westlichen und der islamischen Welt unterstrichen. Er nannte die Türkei ein "Modell für die Welt". Gleichzeitig hat die Europäer unmissverständlich aufgefordert, die Türkei als Vollmitglied in die EU zu integrieren.
Einen regen Austausch pflegt die Türkei mit Russland. Zuletzt hat Anfang August der russische Regierungschef Vladimir Putin Ankara seine Aufwartung gemacht. Dabei ging es auch um Georgien. Die Türkei hat bisher in der heiklen Frage des russisch-georgische Konflikts an seiner Grenze am Schwarzen Meer erfolgreich eine neutrale Position gefahren. Diese neutrale Position ist das generelle Gebot der Türkei für den Kontakt mit dem noch immer mächtigen und selbstbewussten Nachbarn im Norden. Der gesamte benachbarte Kaukasus-Raum ist traditionell türkisches Einflussgebiet und dürfte ein heikles Dauerthema bleiben in der türkisch-russischen Beziehung. Wobei Russland eher in einer defensiven Position ist, nicht nur wegen der "religiösen" Nähe, sondern weil die Türkei nach wie vor den Flaschenhals des Bosporuskanals kontrolliert, Russlands einzigem Zugang zum Mittelmeer. (Bild oberhalb rechts: Russische Fregatte in Istanbul)
Schlüsselrolle als Energie-Hub
Zentraler Punkt der Putin-Visite war aber die Energiepolitik und die Unterzeichnung des Vertrags für das Projekt Southstream, mit welchem russisches Gas aus Zentralasien via die Türkei nach Europa gepumpt werden soll.
Nicht einmal einen Monat früher, Mitte Juli, hat die Türkei (endlich) einen ähnlichen Vertrag mit den Europäern für deren Projekt Nabucco abgeschlossen. Damit unterstreicht die Türkei seine Politik der Neutralität auch in der Energiefrage, vor allem unterstreicht sie ihre selbsbewusste Rolle als Hub für die Oel- und Gasversorgung Europas aus dem zentralasiatischen Raum.(siehe auch der Nabucco-Beitrag auf Contextlink).
Einflusssphäre Zentralasien ...
Wie grosszügig und weit die Türkei sein Einflussflussgebiet selber definiert, wurde jüngst klar, als sie die Problematik der Uiguren anlässlich der schweren Unruhen in der chinesischen Westprovinz Xinjiang vor den UN-Sicherheitsrat bringen wollte. Sogenannte Turkvölker, die alle zur türkischen Sprachfamilie gehören leben im gesamten, schier endlosen zentralasiatischen Raum bis zum Hindukusch, entlang der historischen Seidenstrasse. Dies ist auch klassischer. muslimischer Kulturraum mit den "grossen" Islam-Städten Buchara und Samarkand (Bild rechts) im heutigen Usbekistan.
Hier in Zentralasien überschneiden sich nicht zuletzt die "Einflusssphären" der Türkei und Russlands (GUS-Staaten oder ehemalige UdSSR-Provinzen) und man muss kein Prophet sein, um vorauszusagen, dass es hier noch Anlass zu einigem Stress zwischen den Russen und den Türken geben wird.)
Parag Khanna hat die Bedeutung der "neuen Seidenstrasse" und Zentralasiens für die neue Weltordnung zuletzt in seinem Artikel "The Road to Kabul Runs Through Beijing and Tehran". Und wie praktisch die Türkei auf dieser doppelten Achse mitwirkt, wurde diese Woche gleich doppelt belegt: Am vergangenen Freitag startete die erste Testfahrt eines Güterzuges in Islamabad, der Pakistan via Teheran mit Istanbul Verbindung (Karte links: BBC). Die neue Eisenbahnverbindung ist 6500 Kilometer lang und wird nicht zuletzt im Iran als wichtiger Meilenstein gefeiert. Ein Kommentar zum entsprechenden Artikel in der englisch-sprachigen, regierungsnahen Online-Publikation PressTV triumphiert: "Das sind grossartige Neuigkeiten. Alle Muslime sollten sich gemeinsam darüber freuen ... und die Amerikaner und die und haben Grund zum Weinen. Alle ihre Verschwörungen sind vergeblich, Gott sei's gedankt."
... bis Pakistan
Seit einigen Jahren pflegt die Türkei einen regen Austausch mit Pakistan, u.a. in Sicherheits- und Kulturfragen, private türkische Organisationen - unter anderem auch religiöse - unterhalten zahlreiche Projekte in Pakistan. Und Ende Monat findet in Istanbul das Forum "Friends of Democratic Pakistan" statt. Stargast: Richard Holbrooke, der Sondergesandte Präsident Obamas für Pakistan und Afghanistan.
Friedensstifter in Nahost?
Eine Schlüsselrolle können die Türken auch im Nahen Osten einnehmen. Geschickt hat sich Präsident Erdogan während dem jüngsten Gazakrieg von Israel distanziert und Punkte im arabischen Lager gesammelt. Nach einer kurzen Zeit der Verstimmung haben jetzt die Israel ihren alten Vertrauenspartner Türkei offenbar wieder als Unterhändler bei den Friedensgesprächen mit Syrien akzeptiert.
Die arabische Welt ist offenbar bereit, die Türkei wieder als Regionalmacht zu akzeptieren, auch wenn es noch immer auch schlechte Erinnerungen an die jahrhundertelange Dominanz der Region durch die Türken als Osmanisches Reich gibt.
Vorbild als säkularer islamischer Staat
Längst übt die Türkei im gesamten arabischen Raum einen starken kulturellen Einfluss aus, als in der westlichen Welt erfolgreiche, muslimische Nation gilt sie vielen, insbesondere gemässigten Arabern als Vorbild. Nicht nur wegen seinem wirtschaftlichen Erfolg, sondern auch als Modell eines säkularen muslimischen Staates mit funktionierender Demokratie.
Eine wichtige Rolle bei der Verbreitung der "türkischen" Kultur spielt das Fernsehen. Türkische Fernsehfilme und insbesondere türkische Soap-Operas werden von zahlreichen arabischen Fernsehsender bis in das fundamentalistische Saudiarabien ausgestrahlt und sind wie TV-Serie "Noor" manchmal richtige Strassenfeger in ganz Nahost.
Schlüsselrolle im Irak
Einiges spricht dafür, dass die Türkei jetzt mit dem Abzug der Amerikaner aus dem Irak eine zentrale Rolle an Euphrat und Tigris übernehmen wird. Nicht nur die Amerikaner scheinen auf die Türken zu setzen, auch für den Iran sind sie ein akzeptabler Friedensstifter und künftiger Mit-Machthaber.
Seit dem Juli 2008 gibt es einen türkisch-irakischen "strategischen Kooperationsrat" und eben ist der neue türkische Aussenminister Ahmet Davutoglu von einer Irakreise zurückgekehrt. Offiziell ging es um den Ausbau der wirtschaftlichen Zusammenarbeit, doch der Türkei geht es auch um vitale Sicherheitsfragen. Die Türkei wird alles unternehmen, um ein Auseinanderbrechen des Iraks zu verhindern. Die Türken befürchten, es könnte an ihrer Südgrenze ein neuer kurdischer Staat entstehen, der auch die staatliche Integrität der Türkei gefährden könnte. (Bild rechts: Türkische Soldaten in Kurdistan)
Auf diesem Hintergrund sind auch die erfreulichen Entwicklungen zu sehen, dass die Türkei offensichtlich endlich bereit ist, ihr "ewiges" Problem mit der kurdischen Identität in Ostanatolien und dem 25-jährigen Bürgerkrieg mit der PKK zu lösen.
Einen weiteren, für die ganze Region symbolischen Schritt hat die Türkei ebenfalls in den letzten Tagen beschlossen: Im Rahmen des Davutoglu-Besuchs hat die Türkei dem Irak zugesichert, künftig rund 40 Prozent mehr Wasser über die Flüsse ins alte Kulturland von Euphrat und Tigris fliessen zu lassen. Nicht zuletzt wegen dem Wasser, ist die Türkei für den arabischen Raum ein lebenswichtiger Partner.
Türkei ist auch Europa
Die Zuwendung der Türkei, die zu erwartende neue Rolle als Grossmacht im Nahen Osten und Zentralasien heisst nicht, dass die Türkei sich von Europa abwenden wird, für Europa "verloren" ist. Parag Khanna bringt es auf den Punkt, wenn er schreibt: "Die Türkei IST bereits ein europäisches Land" ("2.Welt" S. 83).
Unbestritten gehört die Türkei mit einem nicht unwesentlichen Teil der Grossregion Istanbul auch geographisch zu Europa. Und wer schon einmal im hippen Stadtteil Beyoglu in Istanbul (Bild rechts) oder auch jenseits des Bosporus bereits in Asien im Stadtteil Fenerbace unterwegs war, zweifelt nicht daran, dass die Türkei auch europäisch ist. Istanbul ist eine der wichtigste Kulturstädte Europas. Während Jahrhunderten war Konstantinopel die wichtigsten Stadt der christlichen Kultur.
Für Parag Khanna ist das moderne Istanbul mehr: das "Wirtschaftszentrum einer von Budapest bis Baku reichenden Region". In einer seiner spannenden Reisereportagen berichtet Khanna über die rasante, sehr westlich-moderne Entwicklung die der östliche Balkan dank der Türkei in den letzten Jahren erlebt hat. Bulgarien werde "mehr und mehr zu einem Vorort der Megalopolis Istanbul," schreibt er in der "2. Welt". Ein Mischgebilde, das man "Istanbulgarien" nenne könnte.
Europa braucht die Türkei
Khanna nennt die Türkei in seinem Beitrag "Die nächste Welt" für "Die Zeit" "die grösste Herausforderung" für Europa. Und er wiederholt die Forderung des US-Präsidenten Obama: Das Land muss unbedingt Vollmitglied der EU werden, um seine Scharnierfunktion zum Mittleren Osten wahrzunehmen."
Die EU muss begreifen, dass es nicht darum geht, die Türkei "gnädigst aufzunehmen und irgendwelche Bedingungen zu stellen (wie ich schon früher in Contextlink geschrieben habe). Europa braucht die Türkei und nicht umgekehrt.
(Bild unten: Skyline des modernen Istanbul bei Nacht)
6 Kommentare:
Viele islamische Staaten und Zentraleuropa werden immer Angst vor den Osmanen haben. Ihre 500jährige Herrschaft wird ewiglich in unseren Köpfen bleiben. Drei Millionen Türken in der BRD alleine sind doch wahrlich kein Pappenstiel. Wieviele sollen es denn bitte schön noch werden, mit all ihren Problemen die sie uns jetzt schon täglich bereiten?
700jährige Herrschaft !!! Erst informieren, dann kommentieren...
Wieso braucht Europa die Türkei? Um deren 60 Mio Bauern finanziell zu unterstützen? Nein, danke.
Wenn es nur wegen wirtschaftlichen Gründen eine Aufnahme geben soll, dann müsste Brüssel ja vorher China integrieren.
Mit einer Kravatte am Hals wird man nicht europäer!
Die Türkei ist nicht bereit, Kurden und Kurdistan zu akzeptieren! ES GIBT ABER KURDEN und ES GIBT AUCH KURDISTAN!! Wenn die Türkei nicht bereit ist diese zu akzeptieren, hat sie in EU nichts zu suchen, denn in EUROPA jedes Volk und Kultur wird akzeptiert und wir sind toleratnt!
1: Es heißt Europäische Union. Dann verstehe ich nicht warum einer erwähnt China soll in die EU.
2: Es gibt sicherlich ein Kurdenproblem in der Türkei. Doch dies wird immer mehr und mehr demokratisch gelöst. Und daußerdem was heißt hier " Wir Europäer sind tolerant?" Es gibt genug andere Länder in Europa die auch ihre Unabhängigkeit wollen.
über 1100 Jahre Herrschaft wenn man die Seldschuckenherrschaft dazuzählt ;)
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