Mittwoch, 22. April 2009

Mein Deutschland oder Wir Niemandskinder.


"Reise ich nach Deutschland, fühle ich mich sofort zu Hause," schreibt Jean Ziegler in "Kuhschweizer - Sauschwaben. Schweizer und Deutsche und ihre Hassliebe" (Herausgeber Jürg Altwegg und Roger de Weck 2003) und drückt damit einmal mehr das aus, was ich auch empfinde. „Warum diese Zuneigung?“ fragt sich der frankophile, aus der Deutsch-Sweiz stammende Genfer Soziologie-Professor Ziegler, „woher die vielen persönlichen Freundschaften?“
Natürlich begründet Ziegler seine „Faszination für Deutschland“ politisch-historisch. Genauer: Mit der Tatsache, „dass sich Deutschland stets geweigert hat, eine Nation zu bilden."
Und: "Die unerhörte kulturelle, lebendige, historische Vielfalt der deutschen Länder gibt Raum zum Atmen, bezaubert den Geist, weckt stete Neugier, belehrt und vermittelt ein unbändiges Gefühl de Freiheit.“

Dieses Gefühl der Freiheit erlebe ich auch wenn ich nach Deutschland fahre, allerdings viel profaner: Auf der Autobahn, ein befreiendes Gefühl des Unterwegs-Seins, hinauszufahren in den weiten Raum. Aber in einen vertrauten, nicht fremden Raum. Auch den Alltag zurücklassen. Ja, Deutschland verbinde ich auch stark mit Freizeit. Unzählige Male sind wir in früheren Jahren nach Deutschland zu Volleyballturnieren gefahren - "verdamp lang her"; ja, die Musik, volles Rohr, ist auch wichtig - , auch zum spielen, aber vor allem zum Party machen, alte Freunde treffen, neue Freunde machen. Einige dieser Freundschaften haben bis heute gehalten. Und diese persönliche Verbundenheit, diese Verwandtschaft mit vielen Deutschen, hat sich auch bis heute im beruflichen Bereich fortgesetzt und bestätigt. Und auch Ziegler scheint es ähnlich zu gehen: „Ich habe zum Glück viele Freunde und Bekannte in verschiedenen Länder Europas, aber die einzigen wirklichen Kosmopoliten unter ihnen sind die Deutschen."

"Mein Deutschland" hat Ziegler seinen Beitrag in Kuhschweizer - Sauschwaben" überschrieben. Er geht aber noch weiter und verwendet für "sein" Deutschland sogar einen häufig etwas schwierigen, missbrauchten Begriff: Heimat: "Heimat ist kein genealogischer, geographischer oder biologischer Begriff. Heimat ist ein Akt der Freiheit. Jeder wählt jene Heimat, die er will. Die Wahlverwandtschaften konstituieren jeden von uns. Viele deutsche Landschaften, Werke der Philosophie, Freundschaften und Gedichte sind Teil meiner Heimat."

So gesehen, ist das Deutsche tatsächlich auch für mich "meine Heimat". In diesem Sinne habe ich eine "deutsche Identität". Hugo Lötscher bezeichnet sie in seinem aktuellen Artikel in der "Zeit": "Was ist ein Schweizer" als "kulturelle Identität" im Gegensatz zu einer "nationalen Identität": "Meine nationale und kulturelle Identität decken sich nicht."
Was wie ein Nachteil aussieht, schreibt Loetscher, kann als Vorteil erachtet werden. Er zitiert Etienne Barilier (geb. 1947), einen Essayisten aus der französischen Schweiz: Ein Schweizer (Schriftsteller) lebt in einem Land, das nicht eine Kultur ist, und lebt nicht in einer Kultur, die eine Nation ist: »Wir sind Niemandskinder. Das ist weder eine Tugend noch ein Defizit, sondern das öffnet eine Perspektive auf die Welt.«

Diese Perspektive ist ein Privileg, aber auch eine Verpflichtung. Sie erlaubt keine Beschränkung auf eine einseitig nach innen gerichtete "Schweizer Identität". Jedenfalls nicht so, wie sie im Rahmen der Gründung des Staates Schweiz im 19. Jahrhundert erfunden wurde, eine romantisch-älplerische Mythologie verbunden mit einem gefährlichen Gefühl des Anders-Seins, gar des Ausserwählt-Seins, wie es heute von den National-Konservativen wieder missbräuchlich verwendet wird.

Es ist die Perspektive aus dem privilegierten Blick der Sicherheit, des Wohlstandes der Schweiz auf unsere deutsche Kultur und nicht zuletzt auch auf die Deutschen, mit ihrer unendlich schwierigeren Geschichte und Identität.

Für mich symbolisiert die Helvetia auf der Mittleren Brücke in Basel diese Perspektive und Haltung: Waffe und Schutzschild abgelegt, dreht sie der Schweiz den Rücken zu und blickt entspannt hinein in die Rheinebene. Dass in ihrem Blickfeld aber eben nicht nur Deutschland liegt, sondern auch das heute französische, an deutscher Kultur aber so reiche Elsass, unterstreicht diese kulturelle, deutsche Identität, die nicht durch neue, nationale Grenzen beschränkt wird.

Keine Kommentare: