Sonntag, 15. Februar 2009

Integration: „Ein Plädoyer für klare Regeln“

Foto: SF
Ich sitze in Istanbul und hatte eigentlich vor, etwas über die geostrategische Rolle der Türkei zu schreiben. Doch im Rahmen der Internet-Recherchen stosse ich wieder einmal auf einen Artikel von Necla Kelek, der deutsch-türkischen Soziologin, welche mir schon früher grossen Eindruck gemacht hat. Ihr Artikel (alt, von 2006) in der Zeit „Heimat – ja bitte“, passt nicht nur sehr gut zu den vielen Gedanken, die sich mir hier in Istanbul beschäftigen, sondern treffen sich auch perfekt mit, dem, was Thomas Kessler kürzlich in meinem baz.online-Interview zur Integration gesagt hat. Seinen Ansatz „fördern und fordern“ würde Necla Kelek wohl unterschreiben. Necla Kelek ist die Frau, die 2005 mit ihrem Pamphlet "Eure Toleranz bringt uns in Gefahr", eine längst nötige Dikusson in Deutschland angestossen hat, die es in der Schweiz noch zu führen gilt.

Hier ausführliche Passagen aus ihrem "Heimat"-Text:

Selbstverantwortung
Wir dürfen die Migranten, ihr Verhältnis zu ihren Söhnen und Töchtern, ihre Einstellung zu Glauben und Religion, zu Rechtsstaatlichkeit und Demokratie nicht länger unter Naturschutz stellen. Migranten sind nicht per se »Opfer«. Mit ihnen auf gleicher Augenhöhe zu verkehren heißt, sich überall dort einzumischen, wo sie den »Geist der Gesetze« dieser Republik verletzen, aber auch jede vormundschaftliche Politik aufzugeben, die sie zu Mündeln degradiert. Niemand kann ihnen die Verantwortung für ihr eigenes Leben abnehmen.

Die „neue Heimat“ akzeptieren
Wer als Migrant gekommen ist, muss Deutschland als seine »wahre Heimat« annehmen. Er muss aufhören, die Deutschen als Fremde zu sehen, deren Sitten und Gebräuche er verachtet; er muss lernen, sich mit diesem Land auseinander zu setzen, und er muss respektieren, dass auch ein Migrant vor Einmischungen in seine »Angelegenheiten«, vor Kritik nicht gefeit ist. »Es ist
völlig in Ordnung, dass Muslime, dass alle Menschen in einer freien Gesellschaft Glaubensfreiheit genießen sollten«, schreibt der Muslim Salman Rushdie. »Es ist völlig in Ordnung, dass sie gegen Diskriminierung protestieren, wann und wo immer sie ihr ausgesetzt sind. Absolut nicht in Ordnung ist dagegen ihre Forderung, ihr Glaubenssystem müsse vor Kritik, Respektlosigkeit, Spott und auch Verunglimpfung geschützt werden.« Diesen selbstbewussten Umgang mit den Errungenschaften der Aufklärung wünschte ich den Muslimen, aber auch ihren selbst ernannten Verteidigern, die auf Kritik reagieren, als würde damit ein Dschinn, ein böser Geist, losgelassen.

In der Moschee auf Deutsch predigen
„Der organisierte Islam hat eine besondere Verantwortung für die Integration. Auch an ihn sind Forderungen zu richten: Koranschulen müssen ihr Programm und ihr pädagogisches Konzept öffentlicher Kontrolle zugänglich machen; Unterricht und Predigten müssen in deutscher Sprache erfolgen; Männern und Frauen ist gleichberechtigter Zutritt zu allen Veranstaltungen zu gewähren; die Betreiber von Moscheen haben ihre Satzung und ihre Finanzen offen zu legen; Moscheevereine verpflichten sich, ein Angebot für Sprachförderung anzubieten; Hodschas haben neben Sprachkenntnissen auch Kenntnisse in Landes- und Gesetzeskunde nachzuweisen.“

Identität und Glauben nicht aufgeben
„Sich an die Arbeit der Integration zu machen bedeutet nicht, seine Muttersprache zu vergessen, seine Identität zu verraten oder seinen Glauben aufzugeben. Bis heute berührt mich nichts so sehr wie meine türk halkmüzigi, türkische Volksmusik, ich esse immer noch nur zu gern meinen Döner und tanze leidenschaftlich gern tscherkessische Tänze – so wie ich Latte Macchiato, Grünkohl, Bach und Jazzrock schätzen gelernt habe. Kultur ist ein ständiger Lernprozess, eine sinnliche Erfahrung, die anderes hören, anderes sehen, anderes schmecken, anderes
fühlen lässt – eine Erweiterung für alle. Es kann nicht darum gehen, Identitätspolitik zu betreiben, wie es die türkisch-muslimischen Vereine immer noch gern tun. Es kann nicht darum gehen, normativ für alle Türken und Muslime zu definieren, was es heißt, »türkisch« oder
»muslimisch« zu sein, wie die Gesellschaft den Türken zu begegnen hat und was die Türken selbst zu tun und zu lassen haben. Verräterisch sind Formeln wie »wir Türken« oder »wir Muslime«, sie erheben immer noch das »Türkentum« und das »Muslim-Sein« zur kollektiven Identität. An dem »Sprachenstreit« auf deutschen Schulhöfen wird deutlich, dass die Auseinandersetzung um die Integration erst jetzt begonnen hat. Jeder in dieser Gesellschaft hat das Recht, Türke, Deutscher, Muslim, Christ oder etwas anderes zu sein. Als Individuum kann er frei wählen, seine Integration als Türke oder Türkin, als Muslim oder Muslimin muss daran
keineswegs scheitern – wohl aber, wenn er sich zurückzieht auf die kollektive Identität. Ein Einzelner kann integriert werden, ein Kollektiv nicht.“

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