Foto: Getty Images (Spiegel online)
Die Schweizer Medien vermeiden tunlichst jeden Vergleich zwischen dem Horror des 2. Weltkriegs und dem aktuellen Krieg Israels gegen Gaza. Kommentare in Leserbriefen oder auf Online-Portalen mit den Begriffen "Nazi", "Hitler", "Ghetto", usw. werden aussortiert. (Und auch ich hab's nicht gewagt, ein Bild aus dem 2. Weltkrieg an den Anfang dieses Blogbeitrags zu stellen).
Warum eigentlich? Zweitens, weil solche Vergleiche nie wirklich stimmen - es war immer anders. Erstens aber, weil politisch einfach zu heikel. Zu schwer lastet noch immer die Erinnerung an den Holocaust auf Europa, nicht nur auf Deutschland. Um darüber wirklich nachdenken zu dürfen und gar drüber zu schreiben, muss man wohl Jude sein, wie Uri Avnery, Gründer der israelischen Friedensbewegung Gush Shalom, 1933 nach Palästina eingewandert, langjährigerAbgeordneter im israelischen Parlament. Er macht die historischen Vergleiche. Telepolis hat seinen Artikel "Die Lügen des Kriegs" veröffentlicht und Facts 2.0 sorgt in verdankenswerter Weise dafür, dass Einige mehr in der Schweiz darauf aufmerksam werden:
"Vor fast 70 Jahren wurde während des Zweiten Weltkriegs in Leningrad ein abscheuliches Verbrechen begangen. Länger als tausend Tage hielt eine Gang von Extremisten, die 'Rote Armee' genannt wurde, Millionen von Einwohnern der Stadt als Geiseln und provozierte die deutsche Wehrmacht aus den Bevölkerungszentren heraus. Die Deutschen hatten keine andere Möglichkeit, als die Bevölkerung zu bombardieren und sie einer totalen Blockade auszusetzen, die den Tod von Hunderttausenden verursachte. Nicht lange zuvor wurde in England ein ähnliches Verbrechen begangen. Die Churchilbande versteckte sich inmitten der Londoner Bevölkerung und missbrauchte Millionen von Bürgern als menschliche Schutzschilde. Die Deutschen waren so gezwungen, ihre Luftwaffe zu schicken und die Stadt widerwillig in Schutt und Asche zu legen."
Natürlich weiss Avnery, dass wir diese Geschichten anders kennen: "Dies ist die Beschreibung, die jetzt in den Geschichtsbüchern stünde – wenn die Deutschen den Krieg gewonnen hätten."
Absurd? fragt Avnery. Um gleich selbst die Antwort zu geben: "Nicht absurder als die täglichen Nachrichten unserer Medien, die so oft wiederholt werden, dass einem speiübel wird: Die Hamas-Terroristen halten die Bewohner des Gazastreifens als "Geiseln" und benützen die Frauen und Kinder als "menschliche Schutzschilde", sie lassen uns keine Alternative, als massive Bombardements durchzuführen, in denen zu unserm großen Bedauern Tausende von Frauen, Kinder und unbewaffnete Männer verletzt oder gar getötet werden."
Es ist ein wütender, schonungsloser Artikel.
Avnery bemüht wohl zu Recht keinen Vergleich des Warschauer Ghettos mit Gaza, wie das arabische Medien machen. Denn im Gegensatz zu der Politik der Nazis im ersten Weltkrieg, strebt Israel nicht die Vernichtung der Menschen im Getto an. Gaza ist auch nicht als Durchgangsstation gedacht für den späteren Weitertransport seiner Bewohner in ein Vernichtungslager.
Nur, wie dann weiter mit Gaza? Die Bevölkerung wächst und ewig kann Israel die Palästinenser nicht auf dem Gazastrip konzentrieren oder gar eingesperrt halten. Ist Israel bereit, die ethnischen Säuberungen, die Vertreibung der Palästinenser aus ihren Dörfern im 6-Tagekrieg rückgängig zu machen, respektive die damals offiziell ausgearbeiteten Pläne für eine Rückkehr der Palästinenser aus den Flüchtlingslagern in Gaza, der Westbank und in Jordanien in die Tat umzusetzen? Gibt es überhaupt Platz für zwei Staaten auf dem Gebiet Palästinas? Sind die Israelis bereit, die Palästinenser zu integrieren, sich langfristig mit den Palästinensern zu vermischen? Oder gar - angesicht des klaren demographischen Verhältnisses - langfristig in der palästinenschen Gesellschaft aufzugehen?
Wenn die Antworten darauf Nein heissen, bleiben nur zwei Optionen: Die definitive Vertreibung der Palästinenser noch weiter weg, z.B. die erzwungene Auswanderung nach Aegypten oder eben doch der Genozid. Beides ist politisch und moralisch undenkbar.
Israel muss umdenken, wird umdenken und auf Leute wie Avnery oder Segev und viele andere Landsleute hören. Die aktuelle Politik, die zum Krieg gegen Gaza geführt hat, ist für Israelis nicht nur ein Desaster, sondern, wie es Avnery formuliert: "... auch ein Verbrechen gegen uns selbst, ein Verbrechen gegen den Staat Israel."
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