Freitag, 23. Dezember 2011

Leuchtturm 11: Krisen des demokratischen Kapitalismus (Lettre)

"Lettre International. Europas Kultur Zeitung" ist in sich ein heraussragender Leuchtturm im "Meer der Belanglosigkeit" der aktuellen Medienlandschaft. Jede Nummer. Das Highlight der aktuellen Ausgabe ist der Leitartikel "Die Krisen des demokratischen Kapitalsmus" von Prof. Wolfang Streek, Direktor des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung in Köln. Er ordnet die aktuelle Krise historisch ein: Der andauernde, eigentlich in seiner Grundkostellation zum Scheitern verurteilte Versuch, die Forderung nach sozialen Rechten mit dem Wirken freier Märkte in Einklang zu bringen. Kapitalismus und Demokratie als im Grunde unvereinbare Gegensätze.
Erstmals veröffentlich wurde das anspruchsvolle, aber gut lesbare Stück im Rahmen der "Max Weber Lectures Series" auf englisch.
Weiter unten ein ausführlicher Ausschnitt.
Lettre ergänzt den Beitrag gleich mit einem zweiten Artikel von Prof. Streek: "Völker und Märkte. Demokratischer Kapitalismus und europäische Integration. Ein Epilog". Genauso hervorragend.

Meine grosse Wertschätzung für die Lettre-Beiträge von Prof. Streek teilt mein alter Fernsehkollege Robert Ruoff. Er stellt in seinem aktuellen Artikel auf Infosperber Streeks Gedankenin einem kühnen Bogen  in den aktuellen Schweizer Zusammenhang mit der Schweizer Medienszene, die Wirren um die Basler Zeitung und den Blocherismus: "An der Medienfront: Die libertäre Einsatztruppe" ist auch ein Leuchtturm.

Letter International ist nur an wenigen Kiosken in der Schweiz erhältlich. Zunehmedn an den Bahnhöfen der grossen Schwiezer Städte. Kosten: satte 23 Franken. Ein Beispiel für die ärgerliche Preispolitik des Schweizer Publikationsmarktes. In Deutschland zahlt man für das genau gleiche Produkt 11 Euro. Aber es lohnt sich auch jeder der 23 Franken, den man in der Schweiz hinlegen muss.

Hier der Ausschnitt, veröffentlicht auf der (dürftigen) Homepage von Lettre International (deutsch):

(…)
Gegenwärtig scheint klar zu sein, daß die politische Lenkbarkeit des demokratischen Kapitalismus stark zurückgegangen ist, in einigen Ländern mehr als in anderen, aber auch in dem sich herausbildenden globalen politisch-ökonomischen System insgesamt. Im Ergebnis sind die Risiken gewachsen, sowohl für die Demokratie als auch für die Wirtschaft. Seit der Großen Depression waren Politiker selten, wenn überhaupt, mit so großer Ungewißheit konfrontiert wie heute. Als ein Beispiel von vielen sei erwähnt, daß die „Märkte“ nicht nur fiskalpolitische Konsolidierung erwarten, sondern auch und gleichzeitig eine realistische Aussicht auf künftiges wirtschaftliches Wachstum. Wie beides zusammengehen soll, ist alles andere als klar. Zwar sank die Risikoprämie auf irische Staatsschulden, als sich das Land zu einem aggressiven Defizitabbau verpflichtete, doch nur einige Wochen später stieg sie wieder, weil das Konsolidierungsprogramm des Landes als so strikt erschien, daß es eine wirtschaftliche Erholung unmöglich machen würde. Überdies herrscht weithin die Überzeugung, daß sich in einer Welt, die mehr denn je von billigem Geld überschwemmt ist, irgendwo bereits die nächste Blase bildet. Subprime-Hypotheken mögen sich zumindest momentan nicht mehr als Anlagemöglichkeit empfehlen. Aber es gibt die Rohstoffmärkte oder die neue Internetwirtschaft. Nichts hindert Finanzfirmen daran, das überreichlich von den Zentralbanken bereitgestellte Geld zu verwenden, um in die neuen Wachstumsbranchen – welche auch immer sich als solche anzubieten scheinen – einzusteigen, im Interesse ihrer bevorzugten Kunden und natürlich auch in ihrem eigenen.

Schließlich sind, nachdem die Regulierungsreform im Finanzsektor in fast jeder Hinsicht gescheitert ist, die Eigenkapitalanforderungen kaum höher als zuvor, und die Banken, die im Jahr 2008 zu groß waren, als daß man sie hätte scheitern lassen können, können sich darauf verlassen, 2012 oder 2013 noch immer so groß zu sein. Damit behalten sie die Fähigkeit, die Staaten zu erpressen, die sie schon drei Jahre zuvor so geschickt einsetzen konnten. Allerdings könnte sich zeigen, daß die staatliche Rettung des privaten Kapitalismus nach dem Vorbild von 2008 sich nicht wiederholen läßt, nicht zuletzt, weil die staatlichen Finanzen bereits bis zum Äußersten angespannt sind.

Die Demokratie ist in der gegenwärtigen Krise ebenso gefährdet wie die Wirtschaft, wenn nicht mehr. Nicht nur die „Systemintegration“ heutiger Gesellschaften – also das effiziente Funktionieren ihrer kapitalistischen Volkswirtschaften – ist prekär geworden, sondern auch ihre „soziale Integration“. Mit dem Beginn eines neuen Zeitalters der Austerität ist die Fähigkeit von Nationalstaaten, zwischen den Rechten ihrer Bürger und den Erfordernissen der Kapitalbildung zu vermitteln, schwer zurückgegangen. Überall sind Regierungen mit stärkerem Widerstand gegen Steuererhöhungen konfrontiert, besonders in hochverschuldeten Ländern, wo man noch viele Jahre lang frische öffentliche Gelder wird verausgaben müssen, um für Güter zu bezahlen, die längst verbraucht sind. Außerdem kann man angesichts einer immer engeren globalen Interdependenz nicht mehr so tun, als ließe sich die Spannung zwischen Wirtschaft und Gesellschaft, zwischen Kapitalismus und Demokratie, im Rahmen nationaler politischer Gemeinschaften bewältigen. Keine Regierung kann heute regieren, ohne genauestens internationale Zwänge und Verpflichtungen zu beachten, darunter auch die der Finanzmärkte, die den Staat zwingen, seiner Bevölkerung Opfer aufzubürden. Die Krisen und Widersprüche des demokratischen Kapitalismus sind endgültig internationalisiert worden und wirken sich nicht nur innerhalb der Staaten, sondern auch zwischen ihnen aus, in bislang noch unerforschten Kombinationen und Permutationen.

Wie wir heute fast täglich in den Zeitungen lesen können, diktieren mittlerweile „die Märkte“ in noch nie dagewesener Weise, was mutmaßlich souveräne und demokratische Staaten noch für ihre Bürger tun können und was sie ihnen verweigern müssen. Dieselben in Manhattan ansässigen Ratingagenturen, die an der Herbeiführung der Katastrophe der globalen Geldindustrie mitgewirkt haben, drohen jetzt damit, die Anleihen von Staaten herabzustufen, die ein bisher unvorstellbares Maß an Neuverschuldung auf sich nahmen, um diese selbe Industrie und die kapitalistische Wirtschaft insgesamt zu retten. Noch begrenzt und verzerrt die Politik die Märkte, aber, wie es scheint, auf einer Ebene, die vorher weit von der täglichen Erfahrung und den Organisationsmöglichkeiten normaler Menschen entfernt ist: die USA, bis an die Zähne bewaffnet nicht nur mit Flugzeugträgern, sondern auch mit einer unbegrenzten Heerschar von Kreditkarten, schaffen es noch, China zum Kauf ihrer steigenden Schulden zu bewegen. Alle anderen müssen darauf hören, was „die Märkte“ ihnen sagen. Als Folge nehmen Bürger ihre eigene Regierung zunehmend nicht als ihre Vertretung wahr, sondern als die von anderen Staaten oder internationalen Organisationen wie dem IWF oder der Europäischen Union, die gegen den Druck der Wähler sehr viel stärker abgeschirmt sind, als es der traditionelle Nationalstaat war. In Ländern wie Griechenland und Irland gar wird alles, was an Demokratie erinnert, auf viele Jahre hinaus faktisch suspendiert sein; um sich im Sinne der internationalen Märkte und Institutionen „verantwortlich“ zu verhalten, werden nationale Regierungen strikteste Einsparungen verordnen müssen, um den Preis, für die Bedürfnisse der eigenen Bürger zunehmend unempfänglich zu werden.

Die Demokratie steht nicht nur in den Ländern in Frage, die gegenwärtig von den Märkten angegriffen werden. Deutschland, das wirtschaftlich noch einigermaßen gut dasteht, hat sich auf Jahrzehnte zu Ausgabenkürzungen verpflichtet. Außerdem wird die deutsche Regierung ihre Bürger erneut dazu bewegen müssen, Liquidität für konkursgefährdete Länder bereitzustellen, nicht nur, um deutsche Banken zu retten, sondern auch, um die europäische Gemeinschaftswährung zu stabilisieren und einen allgemeinen Zinsanstieg für Staatsanleihen zu verhindern, der vermutlich kommen wird, sobald das erste Land abstürzt. Der hohe politische Preis dafür läßt sich am fortschreitenden Verfall des Wählerkapitals der Merkel-Regierung ablesen, der in den letzten Jahren bei bedeutenden Regionalwahlen zu einer Reihe von Niederlagen führte. Populistische Parolen des Inhalts, daß vielleicht auch die Gläubiger einen Teil der Kosten tragen sollten, wie sie die Kanzlerin Anfang 2010 von sich gab, wurden rasch fallengelassen, als „die Märkte“ ihrem Ärger durch eine leichte Anhebung des Zinssatzes auf neue Staatsanleihen Ausdruck gaben. Jetzt wird davon gesprochen, daß man, wie der deutsche Finanzminister es ausdrückt, von der altmodischen Organisationsform der „Regierung“, die den neuen Herausforderungen der Globalisierung nicht mehr gewachsen sei, zur „Governance“ übergehen müsse, wobei er speziell eine dauerhafte Beschneidung der Budgethoheit des Bundestags im Auge hatte.

Die politischen Erwartungen, mit denen demokratische Staaten heute von ihren neuen Herren konfrontiert werden, sind möglicherweise unerfüllbar. Internationale Märkte und Institutionen verlangen, daß sich nicht nur die Regierungen, sondern auch die Bürger glaubhaft zu fiskalpolitischer Konsolidierung verpflichten. Parteien, die sich gegen die Sparpolitik wenden, müssen bei nationalen Wahlen eine schallende Niederlage erleiden, und Regierung wie Opposition müssen öffentlich auf „gesunde Finanzen“ verpflichtet werden, sonst werden die Kosten des Schuldendienstes steigen. Doch Wahlen, bei denen die Wähler keine wirkliche Wahl haben, könnten von ihnen als sinnlos empfunden werden, was zu allen möglichen politischen Störungen führen könnte, von sinkender Wahlbeteiligung über einen Aufstieg populistischer Parteien bis hin zu Straßenschlachten.

Dabei spielt auch eine Rolle, daß die Schauplätze des Verteilungskonflikts sich immer mehr von der Politik der Menschen entfernt haben. Die nationalen Arbeitsmärkte der siebziger Jahre mit ihren vielfältigen Gelegenheiten für korporatistische politische Mobilisierung und klassenübergreifende Koalitionen und die Politik der Staatsausgaben in den achtziger Jahren gingen nicht unbedingt über den Verstand des „Mannes auf der Straße“ oder seinen strategischen Horizont hinaus. Seither aber sind die Schlachtfelder, auf denen die Widersprüche des demokratischen Kapitalismus ausgefochten werden, immer komplexer geworden, was es für jemanden, der nicht zu den politischen und finanziellen Eliten gehört, ungemein schwer macht, die zugrundeliegenden Interessen zu erkennen und seine eigenen zu formulieren.

Zwar könnte dies massenhafte Apathie erzeugen und dadurch den Eliten das Leben erleichtern. Aber darauf ist in einer Welt, in der blinder Gehorsam gegenüber Finanzinvestoren als das einzig rationale und verantwortliche Verhalten dargestellt wird, kein Verlaß. Denjenigen, die sich andere soziale Rationalitäten und Verantwortlichkeiten nicht ausreden lassen wollen, mag eine solche Welt schlicht absurd erscheinen – so daß am Ende für sie das einzige rationale und verantwortliche Verhalten darin bestehen könnte, möglichst viel Sand ins Getriebe der haute finance zu streuen. Dort, wo die Demokratie, wie wir sie kennen, faktisch suspendiert ist, wie in Griechenland, Irland und Portugal, mögen Straßenkrawalle und Volksaufstände die letzte verbleibende politische Ausdrucksform für diejenigen sein, die keine Marktmacht besitzen. Sollten wir um der Demokratie willen hoffen, daß wir bald Gelegenheit haben werden, einige weitere Beispiele zu beobachten? 
(…)

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