Sonntag, 29. August 2010
Die den Toten geschuldete Wahrheit und die Interessen der Lebenden
Der Titel dieses Blogbeitrags ist der Versuch einer Übersetzung des Titels, den Colette Braeckman, die "Grande Dame" des europäischen Journalismus über die Region der Grossen Seen, für ihren Blogbeitrag zum UNO-Report über den "Völkermord" an den Hutus durch die ruandische Armee 1996 - 98 gewählt hat. Ihren Kommentar möchte ich hier (weiter unten) multiplizieren. Frau Braeckman formuliert präzise das Dilemma, das auch ich habe, wenn ich den neuen Report der UNO und die dazugehörigen Berichte in den Medien lese:
Natürlich möchten wir endlich Genaueres über das Schicksal der Hunderttausenden von Hutuflüchtlingen erfahren, die nach dem Genozid in Ruanda 1994 vor der Rache der Tutsi über die Grenze in den Kivu/Kongo geflohen sind. Verfolgt nicht nur vor der ruandischen Armee, sondern auch von den Soldaten der Armee Laurent Kabilas, der sich mit Unterstützung Ruandas 1996 (und der USA) aufmachte, die Reste das morschen Mobutu-Regimes zu stürzen und selbst die Macht im Kongo zu übernehmen.
Natürlich sollten wir darüber berichten, nicht nur aus journalistischer Ethik, sondern weil wir es auch den vielen Toten schulden.
Ich möchte auch persönlich endlich wissen, was wirklich geschah damals 1996 - 1998. Ich war 1997 als Reporter für das Schweizer Fernsehen mit einer der grossen Flüchtlingsgruppen im Raum Kisangani unterwegs. Die rund 250'000 Menschen - meist Frauen, Kinder und Alte, aber unter ihnen auch viele Hutusoldaten - waren straff organisiert nach ihrer Herkunft aus den Gemeinden in ihrer Heimat Ruanda rund um einen "Burgermeester". Sie versuchten auf der Dschungelstrasse entlang der alten Eisenbahnlinie zwischen Kisangani und Ubundu Richtung Süden voranzukommen (Bild oben), mit dem vagen Ziel "Angola", 2000 Kilometer südlich.
Täglich starben Menschen an Krankheiten und Erschöpfung, vergeblich versuchte das UNHCR wenigstens eine minimale Hilfe aufrecht zu erhalten. Regelmässig wurde die schier endlose Flüchtlingskolonne im tiefen Regenwald von Kabila-freundlichen Truppen überfallen. Wir selbst haben unter anderem auch ugandische Soldaten gesehen.
Wie viele Flüchtlinge überlebt haben, weiss bis heute niemand. Wir wissen nur, dass ein Teil der Flüchtlinge, insbesondere einige Tausend der bewaffneten (Hutu-)Soldaten sich neu formierten und als "Rebellenorganisation" FDLR während Jahren einen Teil des Rohstoffabbaus im Kivu/Ostkongo kontrollierten . Gleichzeitig verübten sie immer wieder schlimme Massaker, Vergewaltigungen, etc.. .
Doch von vielen Flüchtlingen (die Rede ist von "Hunderttausenden") weiss man nichts. Sie sind "verschwunden".
Der aktuelle UNO-Bericht liefert jetzt Schilderungen, wie viele von ihnen, eben meist Frauen, Kinder und Alte, ums Leben kamen. Rücksichtlos und gezielt massakriert von im Gebiet operierenden Truppen unterschiedlichster Provenienz. Ihre Geschichte sollte erzählt werden und die Verantwortlichen für ihre Verfehlungen zur Rechenschaft gezogen werden.
Gleichzeitig aber müssen wir einmal mehr zur Kenntnis nehmen, dass in jedem Krieg Verbrechen geschehen. Wir, der Westen, die UNO, die Belgier, Franzosen und Amerikaner müssen uns vorwerfen lassen, dass wir zuwenig bis nichts unternommen haben, um die Ereignisse zu verhindern, die zu den Katatstrophen und den damit verbundenen Verbrechen in Ruanda und im Kongo geführt haben. Wir haben nicht nur tatenlos dem Völkermord der Hutus an den Tutsis in Ruanda 1994 zugesehen, sondern auch nichts von den daraus folgenden Ereignissen im Ostkongo wissen wollen. Insofern ist es problematisch, dass sich die UNO und viele (westliche) Menschenrechtssorganisationen heute moralisch aufplustern und die Täter jetzt, 15 Jahre später, öffentlich anprangern und verurteilen wollen.
Wir - die UNO und die westlichen Menschenrechtsorganisationen - müssen uns fragen, ob mit dem UNO-Report und dem damit verbundenen öffentlichen Aufarbeitungsprozess nicht die oberflächlich vernarbten Wunden in der Region der Grossen Seen wieder aufgerissen werden. Jetzt, in einem Moment, "in dem die Regierungen der Region endlich begonnen haben, miteinander zu reden, zusammenzuarbeiten, sich im Wiederaufbau zu engagieren", wie Colette Braeckmann schreibt. Wir müssen uns bewusst sein, dass wir mit dem (unserem?) Bedürfnis der Aufklärung, der Schaffung von "Gerechtigkeit", womöglich neue, blutige Konflikte schüren. Indem wir Gerechtigkeit für die Toten von damals schaffen wollen, könnten wir morgen neue Ungerechtigkeiten und Tote schaffen. Wir riskieren das Vorzeigemodell Ruanda, die fragile Sicherheit Burundis und den aufkommenden Frieden im Kongo zu gefährden.
Colette Braeckman formuliert es so: "Die Interessen der Lebenden, welche das Bedürfnis nach Frieden und Entwicklung haben, könnte kollidieren mit der Wahrheit, die wir den Toten schulden."
Hier Colette Brackmans Kommentar:
"... l’investigation menée au Congo est légitime, car elle rend justice à ces millions de Congolais qui ont été, à des titres divers, victimes d’une guerre qui n’était pas la leur. Mais elle est aussi explosive, car la publication du rapport risque de bousculer plusieurs gouvernements de la région : des éléments des forces armées rwandaises sont directement visés, mais des Burundais, des Ougandais, ainsi que des officiers congolais, hier membres des groupes rebelles, pourraient également être mis en cause. Pour être complet, le rapport devrait aussi mentionner les appuis internationaux dont bénéficièrent à l’époque les forces de l’AFDL ainsi que leurs adversaires. En effet, au moment des massacres de Tingi Tingi, des mercenaires serbes se trouvaient à Kisangani, recrutés par les Français et ils s’apprêtaient à faire leur jonction avec les combattants hutus qui se servaient des réfugiés civils comme de boucliers humains. En outre, les attaques sur les camps et la traque des réfugiés à travers le Congoi furent rendues possibles par des photos aériennes fournies par les Américains, tandis que les Canadiens faisaient tout pour décourager, au début de la guerre, une intervention plus vaste de l’ONU.
Autrement dit, il serait totalement injuste de charger uniquement les gouvernements africains de la région, comme si les Nations Unies et surtout les grandes puissances membres du Conseil de sécurité n’avaient pas été activement impliquées dans ces évènements dont les peuples de la région des Grands Lacs allaient payer le prix durant des décennies.
Après quinze années de silence obligé et de triomphe de la raison d’Etat, ce rapport, dont la fuite, inévitable mais peut-être pas fortuite, apparaît comme un pavé dans la mare, alors que les gouvernements de la région commençaient enfin à se parler, à collaborer, à s’engager dans la reconstruction. Les intérêts des vivants, qui aspirent à la paix, au développement, pourraient entrer en collision avec la vérité due aux morts…"
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