Dann David Gugerlis Artikel "Hat die Zukunft eine Schweiz?":
"Der Schweiz wird man gerecht, wenn man sie als Entwurf versteht," schreibt der Professor für Technikgeschichte an der ETH in seinem aktuellen ZEIT-Artikel (noch nicht online verfügbar). Er variiert und aktualisiert darin seine Thesen, die er Anfang 2010 in einem aufsehenerregenden Artikel in der NZZ unter dem genau gleichen Titel "Hat die Zukunft eine Schweiz?" veröffentlicht hat. Der "Projektcharakter der Schweiz" sei ein besonders guter Ausgangspunkt, "weil die Zukunft immer das Produkt von gegenwärtigen Entwürfen und Einschätzungen, Projekten und Debatten ist."
Es brauche eine "schonungslose Gegenwartsanalyse", schreibt Gugerli, weil es keinen Sinn mache, "die bisherigen Entwürfe der Schweiz aus Gründen der Nostalgie oder auch nur des Respekts vor der Vergangenheit perpetuieren zu wollen."
Der Historiker Gugerli fordert die Entsorgung "historischer Ballaststoffe." Als Stichworte nennt er das Milizsystem in der Politik auf Bundesebene oder die Gemeindeautonomie. Manche Ballaststoffe wie die "Privatisierungseuphorie" und der Populismus "werden sich von alleine entsorgen".
Gemäss seiner in der Wissenschaft geschulten Methodik ruft der Präsident der Strategiekommission der ETH dazu auf , kreative Fragen zu stellen, "Entwürfe" einer modernen Schweiz zu machen und diese auf ihre Tauglichkeit zu überprüfen:
Zum Beispiel "einen Entwurf einer Schweiz als EU-Mitglied und als Kontrollexperiment überlegen, was eine Schweiz unter den zukünftigen Bedingungen des Bilateralismus sein könnte."
Er fordert uns auf, konkrete Überlegungen anzustellen, wie wir uns die Schweiz der Zukunft für uns selber vorstellen:
- "Eine Schweiz der Kuh- und Käseglocken, in der sich der Weltuntergang wie im Réduit der Weltkriege überdauern lässt?"
- "Eine Schweiz als Freizeitpark und Schlafland für die globale Wirtschaft?"
- "Ein europäisches Altenheim und Steuerparadies?"
- "Als Ort der polizeilichen Vermeidung multikultureller Herausforderungen?"
- "Oder doch eine Schweiz der positiven Kombinationseffekte von Sorgfalt und Rücksicht auf und Vertrauen in politische Prozesse?"
"Der Schweiz sei es immer dann besonders schlecht gegangen, wenn die selbst vormals Eingewanderten die Überfremdungskarte zückten und dabei nur ihre Konzeptlosigkeit offenbarten. Gut ging es der Schweiz immer dann, wenn der Bundesstaat durch den Aufbau von Infrastrukturen des Wissens, der Kommunikation und des Transports, durch sorgfältige gesellschaftliche Koordinationsleistungen oder durch kompensatorische und stützende Wirtschaftspolitik Differenzen abbauen half und Konsens förderte."
Gerne würde ich von Professor Gugerli Konkreteres über seine aktuellen Entwürfe für die Schweiz hören. Ich werde in fragen, ob er sich in nächster Zeit mal auf ein Bier mit mir trifft. Denn Ideen hat er bestimmt, vorwärtsgerichtete, wie das gerade bei Historikern nicht selten der Fall ist.
1 Kommentar:
Max Frisch hat zum Thema Entwurf auch schon wesentliches beigetragen, das mehr ist als Balast. Der Terminus "CH als Entwurf" kam von ihm, auf frz projet, richtigerweise noch näher bei der konkreten Utopie.
Frisch hilft uns auch die Identitätskrisen besser zu verstehen, denn wer keinen Entwurf hat, kann nicht handeln und wer nicht mit anderen nicht zu handeln weiss, kann keine gemeinsame Identität entwickeln, die sich mehr aus der Zukunft erwächst als aus der Vergangenheit.
Kommentar veröffentlichen