"Man fragt sich ja immer bedrückt, wie viele es von ihnen eigentlich gibt, von den großartigen, aber völlig vergessenen Büchern, und von den Schriftstellern, die entweder nur kurz reüssieren konnten oder, noch schlimmer, ein Leben lang erfolglos blieben. Und dann noch von Glück sagen müssten, wenn sie wenigstens Jahrzehnte nach ihrem Tod (wieder-)entdeckt werden."
Zu entdecken gilt es Ulrich Becher, Schriftsteller. Geboren am 2. Januar 1910 in Berlin, vor genau 100 Jahren also. Gestorben am 15. April 1990 in Basel, wo er seit 1954 gelebt hatte.
Auch hier in Basel kennt den Namen Ulrich Becher kaum jemand. Ausser ein paar Insider. Aber die sind alle glühende Verehrer. Zu ihnen gehört auch Eva Menasse, aus deren Rezension zur Neuausgabe von Bechers wichtigstem Roman "Die Murmeljagd" in der Zeitung "Die Welt" im vergangenen Herbst das Eingangszitat stammt, sondern eine wachsende Zahl von Basler Kultur-Insidern.
Treibende Kraft ist Dieter Häner, 65, Basler, EDV-Spezialist, Jazzdrummer, Literaturfan, Schaupieler und Schwager. 2001 hat er eine Ulrich-Becher-Web-Page (wo ich auch die Becher-Unterschrift und die Fotos kopiert habe; Danggschön Dieti) kreiert mit dem Ziel, "mit diesem Auftritt im Internet Ulrich Becher vor der Vergessenheit zu retten oder sogar die Verbreitung (mittels Neuauflage?) seines Werkes voranzutreiben." Zusammen mit Ulrich Bechers Sohn, dem Autor Martin Roda Becher, hat er vor knapp einem Jahr Bechers wichtigsten Roman "Murmeljagd" als Hörbuch herausgegeben. Mit einem sehr schönen, reichhaltigen Booklet.
Das Hörbuch hat mir Dieter Häner irgendwann mal vor Weihnachten so im Vorbeigehen in die Hand gedrückt. Ich hab's auf meinen iPod geladen und habe in den letzten Wochen häufig reingehört. Skeptisch zuerst. Dieter hatte mir in den letzten Jahren immr mal wieder von Becher geschwärmt, aber es hat sich irgendwie abgehoben, unnahbar angehört. Etwas für Insider, fast sektiererisch. Eva Menasse, die zur kleinen auserwählten Becher-Verehrer-Gemeinde gehört, beschreibt das so: "Und Bechers großes, schwarzes, infernalisches Hauptwerk schließlich, der Roman "Murmeljagd", der 1969 erstmals erschien, war seit Jahrzehnten eine Art Geheimcode zwischen Eingeweihten - wo man es, vom Donner gerührt, im Regal stehen sah, fühlte man sich sofort wie zu Hause."
Nein, vom Donner gerührt bin ich nicht, aber echt fasziniert. Auch wegen der Geschichte. Aber zuerst wegen Wolfram Berger, dem Sprecher. Es ist ein Ereignis, ihm zuzuhören. Manchmal verliere ich den Faden der Geschichte, ich höre und beobachte Wolfram Berger, wie er die Worte formt, die Sätze lebendig macht, die Stimmung schafft. "Wir waren uns einig," schreibt Dieter Häner im Vorwort des Booklets, "dass nur ein Sprecher, nämlich Wolfram Berger, in Frage kommen konnte. Wir hielten Wolfi .... für die ideale Besetzung des Sprechers." So ist es.
Hier gibt's eine Hörprobe.
Wolfram Berger gehört zu diesem Text. Er ist verwandt mit der Leitfigur Trebla und mit Autor Becher. Nicht nur weil er Österreicher (sogar Grazer wie Trebla) und feinsinnig-humorvoll ist und in der Schweiz im "Exil" war. Aber - und das finde ich speziell frappierend - er gehört auch ganz persönlich zu den Leuten, die Ulrich Becher wieder zugänglich machen wollen.
Dieter Häner und Martin Roda kennen "Wolfi" nämlich nicht nur "aus seiner Zeit am Basler Theater". Wolfram Berger verkehrte damals auch regelmässig in Dieters WG an der Austrasse in Basel.
Noch ein Zweites hat mich speziell bewegt. Als ich zum ersten Mal die Passage zu Beginn der Murmeljagd hörte mit dem Brief des Ex-Kameraden-Offiziers und Neu-Nazi Adelhart S. an der Flüchtling Trebla im schweizerischen Pontresina, war ich fast schockiert. Ich hatte am Vorabend Georg Kreis im "Club" des Schweizer Fernsehens im Nachgang zur Minarett-Initiave gehört. Seinen Vergleich der Nazi-Propganda mit den aktuellen SVP-Kampagnen.
Dann hörte ich Bechers Ex-KuK-Offizier und Neu-Nazi Adalbert S. reden: Die Wortwahl, die arrogante Ignoranz, Bergers Sprachduktus: Genau wie die Reden, die wir heute in der Schweiz von den Rechtspopulisten hören.
Die Murmeljagd - Ulrich Becher - ist erschreckend aktuell.
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