Samstag, 2. Januar 2010

Die SVP als Sprachrohr der Verlierer

Ein bisschen erschrecke ich, wenn ich den Titel dieses Contextlink-Beitrags lese. Nicht weil die SVP beleidigt sein könnte – es dürfte ihr ziemlich egal sein, was in einem unbedeutenden Blog steht – nein, weil ich befürchte, dass es so viele Verlierer sind.

Der Titel ist meine schweizerische Boulevardisierung eines Artikels des deutschen Soziologen Ulrich Beck (Bild links, iiqii.de) im aktuellen „Cicero“ (ein Ringierprodukt!). Beck nennt es „eine Erwiderung“ auf das „Bürgerliche Manifest“ seines Soziologen-Kollegen Peter Sloterdijk. Aber dieses Soziologen-Geplänkel interessiert mich wenig. Dafür umso mehr Beck’s Deutung der aktuellen Krise in den westlichen Gesellschaften in der Globalisierung. Sein „transnationaler Blickwinkel“ auf die neue „grenzüberschreitende Ungleichheitsdynamik“:

Globalisierung als nationale Entgrenzung

„Gegenwärtig erleben wir die Emanzipation der ökonomischen Interessen von den nationalen Bindungen und Kontrollinstanzen. Das bedeutet die Trennung von Herrschaft und Politik.“

Die Herrschaft, die Macht, ist nicht begrenzt auf ein nationales Kriterien in geographisch beschränkten gesellschaftlichen und kulturellen Räumen. Die nationalen Grenzen sind durchlässig geworden – „zu mindest für die Kapital- und Informationsströme“.

Von der „nationalen Entgrenzung“, eben der Globalisierung, von der Überwindung der nationalen Grenzen sind alle Menschen betroffen. Einige erleben diese Entgrenzung, diese „Transnationalisierung“, passiv - sie erleiden sie – andere erleben sie aktiv – sie nutzen sie. Die ersten sind die Verlierer - oder sie fühlen sich zumindest bedroht von der aktuellen Entwicklung. Die zweiten sind die Aufsteiger, die Gewinner.

Die Gewinner

Ob man zu den Gewinnern oder zu den Verlierern gehört, entscheidet sich daran, ob man „die Möglichkeiten und Chancen zu grenzüberschreitender Interaktion und Mobilität“ nutzen kann oder nicht. Diese Möglichkeit und Fähigkeit ist für Beck der „wichtigste Einflussfaktor, der über die Position in der Ungleichheitshierarchie im globalen Zeitalter“ entscheidet. Es geht um die Aneignung und Anreicherung von kulturellem, sozialem und ökonomischem Kapital: „Ressourcen aller Art wie Pässe, Bildungspatente, Sprachen, Geld“.

Zu diesen Aufsteigern, den „aktiven Transnationalisierern“, gehören nicht nur die globalen Eliten aus Finanz- und Wirtschaft, die schon länger nicht mehr nur „in Kategorien nationaler Räume denken und handeln“, sondern vermehrt auch „grosse Teile der jüngeren Generation, die bewusst transnational leben, entsprechend mobil sind, internationale Bildungspatente erwerben, Freundschaftsnetzwerke knüpfen und auf diese Weise ihr ‚Beziehungskapital’ vermehren.“

Die Verlierer

„Auf der anderen Seite dieser Spaltung“ stehen die Verlierer, „die abstürzende Mitte“, die die Transnationalisierung passiv erleidet: „die äusserst heterogene Mehrheit derjenigen, die ihre materielle Existenz territorial definieren“. Sie fühlen sich bedroht, sie fürchten um ihre materielle Sicherheit, sie ahnen, ihr Lebensstandard könnte sinken. Deshalb pochen die Absteiger „auf die Stärkung territorialer Grenzen und die Schärfung nationaler Identität.“

Hier zeigen die unsicheren Zeiten - gemäss Beck - „ihr neonationales Gesicht: Der Hass auf `die anderen’, auf Ausländer, Juden, Muslime (oder Deutsche; AM) wächst.“

Die Verlierer in der Mehrheit

Und da wird Becks Analyse definitiv konkret praktisch, politisch. Es ist die Antwort auf die Frage, warum eine wachsende Mehrheit des „Volkes“ die rückwärts gerichteten, auf Bewahrung, nicht auf Veränderung und Öffnung bedachten populistischen Kreise unterstützt. Beck: „Der Wähler ist kein Masochist“. Er stimmt nicht für Vorlagen, er wählt nicht Parteien, die Programme und Ideen vertreten, die er als bedrohlich empfindet, die ihm seinen sozialen und materiellen Abstieg bescheren.

Keine Mehrheit für die Öffnung

Weil die Zahl der Verlierer aber voraussichtlich so gross ist, dass Populisten, die sich zu Sprechern der Verängstigten machen, bei Wahlen und Abstimmungen die nötigen Mehrheiten an der Urne zusammenbringen können (siehe auch: Die Stunde der Rattenfänger“), dürfte es aus national-schweizerischer Sicht zuerst einmal höchst unwahrscheinlich sein, dass sich die Schweiz in nächster Zeit international öffnet, zum Beispiel Mitglied der EU wird. Und international, „im Westen“, gilt das gleiche: „Ohne die Zustimmung der nationalen Mitte weltweit verliert eine Politik, die die internationale Integration wahren oder sogar ausbauen wird, die Machtgrundlage.“ Populisten und Isolationalisten werden in überkommenen nationalen Grenzen das Sagen haben. Die wichtigen Entscheide fallen anderswo.

Fazit 1

Die modernen westlichen (Wohlstands-) Demokratien werden also wohl künftig - von ihrem „Volk“ paralysierte – international wenig anpassungsfähig sein. Autoritäre Staaten mit einer Bevölkerung, die nichts zu verlieren hat, können sich bei der aktuellen Ausmarchung um die neue Weltordnung, die Verteilung der künftigen Pfründen, freier bewegen.

Fazit 2

Bei den politischen Parteien eine Verantwortung für eine längerfristige Sicht, einer Politik der Offenheit, der Öffnung zu verlangen, ist aber systemwidrig. Denn für die Politiker und ihre Parteien zählt - bei aller gegenteiligen Rede - nicht die langfristige, gedeihliche Entwicklung des Landes, zum Beispiel der Schweiz oder ihrer Mehrheit, sondern nur der kurzfristige Erfolg bei den nächsten Abstimmungen und Wahlen. Diese Demokratie der kurzsichtigen Mehrheitsentscheide wird zum existentiellen Problem.

Wir sollten wirklich dringend eine Diskussion über die Demokratie führen. Auch deswegen.

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