Sonntag, 27. Dezember 2009

Die Stunde der Rattenfänger

Seit Tagen schreibe ich an einem Artikel über die schockierende Demokratiedebatte, die zur Zeit in den Schweizer Medien läuft. Angeführt vom Kampfblatt des Rechtspopulismus, der Weltwoche. Ich schaff's einfach nicht, einen politisch korrekten Contextlinkbeitrag zu verfassen. Ich fühle mich nicht wirklich frei, das zu veröffentlichen, was ich denke.

Also zitiere ich Andere. Ich kopiere hier einen alten Artikel aus der Zeit. Publiziert wurde er im April 2007, also noch vor der Finanz- und Wirtschaftskrise. Die Inhalte und Aussagen sind in der Zwischenzeit aber nur noch aktueller und gültiger geworden. Ich vertraue darauf, dass Contextlinkleser den Transfer von den damaligen (deutschen) Verhältnissen auf den aktuellen Schweizer Kontext problemlos schaffen werden.


Die Stunde der Rattenfänger
»Ein Jahrhundert des Autoritarismus ist keineswegs die unwahrscheinlichste Prognose für das 21. Jahrhundert.« Ralf Dahrendorf (ZEIT Nr. 47/1997)

Die besorgten Stimmen mehren sich. Kritische Befunde über den Zustand der liberalen Demokratie kommen aus allen Teilen Europas. Und allenthalben häufen sich die Befürchtungen, das System der offenen, demokratischen Gesellschaft, das eben erst, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, zum globalen Siegeszug aufzubrechen schien, könnte seinen Höhepunkt bereits überschritten haben. Ist die Demokratie schon auf dem Rückzug?

Was Ralf Dahrendorf, der große deutsch-britische Liberale, vor fast zehn Jahren in der ZEIT noch relativ vorsichtig als autoritäre Option für das 21. Jahrhundert skizzierte, wirkt heute wie eine nüchterne Beschreibung der Gegenwart. Die Demokratie sei in der »Defensive«, meint Bronisław Geremek, der polnische EU-Abgeordnete, der sein ganzes politisches Leben lang ein liberaler Demokrat war, früher in Opposition gegen die totalitär herrschende Macht im Lande, während des polnischen Kriegsrechts in Haft, Ende der neunziger Jahre Außenminister. Heute ist er ein Streiter gegen die Fehlentwicklungen der Demokratie.

Eine düstere Analogie zu den dreißiger Jahren zog kürzlich der kosmopolitische Niederländer Ian Buruma in der Neuen Zürcher Zeitung: Wie damals verschwänden die traditionellen Eliten, Rassisten seien im Kommen, »und die herkömmlichen Politiker in unseren müde gewordenen parlamentarischen Demokratien wecken kaum mehr Inspiration und Vertrauen«.

Symbol/Vorbild Berlusconi Über allem schwebt für ihn und andere Beobachter der europäischen Szene Silvio Berlusconi als Symbolfigur für eine Zukunft, in der der Demokratie ihre klassischen Inhalte abhanden kommen. Die hohe Zustimmung, die der einstige Barsänger und heutige Medientycoon Berlusconi bis zuletzt bei den Wählern fand, sei, so Buruma, ein kulturelles Menetekel für das, »was auf uns zukommt« – die Mischung von Propaganda und Unterhaltung, die Reduzierung politischer Themen auf Personality-Shows, die schleichende Gehirnwäsche der Massen über ein faktisches Medienmonopol, das im Dienst der politischen Interessen des Konzernherrn steht.

Früher sei diese Art von Führerkult nur in Diktaturen üblich gewesen, schreibt der britische Politikwissenschaftler Colin Crouch, der Mann, der die europäische Demokratiedebatte mit dem Begriff der »Postdemokratie« aufgeladen hat. Heute aber hat sich, seiner Analyse nach, dieses Stilelement der politischen Kommunikation in den Demokratien insgesamt bemächtigt.

Zweifel an der Demokratie Mutmaßungen über einen Niedergang, dunkle Ahnungen, dass da etwas neues Unheimliches heranwuchert, und die melancholische Vermutung, das zum Greifen nahe gewesene Paradies könnte verloren sein. Die Euphorie von 1989, dem welthistorischen Durchbruch des demokratischen Gedankens, ist verflogen. In den Mühen der Ebene wächst der Wunsch nach Umkehr zu alten Ordnungen und Gewissheiten. Die Wertordnung des Westens hat in den neuen osteuropäischen EU-Mitgliedstaaten die einstige Strahlkraft verloren. Und auch im alten Westen wachsen Zweifel an der freiheitlichen Verfassung und an den Vorzügen der Demokratie.

Anlässe oder Vorwände für staatsbürgerliches Missvergnügen gibt es genug: Globalisierung, Reformdruck, Sparzwänge, Zuwanderung, neue soziale Ungleichheiten, ethnische Spannungen, Sicherheitsdefizite, Zukunftsängste der Mittelschichten, Hoffnungslosigkeit der Unterschichten, und das alles auf einmal in einem einzigen historischen Augenblick.

Das Volk als Vehikel des Populismus Die daraus herrührende emotionale Melange aus vagen Befürchtungen und konkreten Verlusterfahrungen ist die optimale Mischung für neue antidemokratische Bewegungen. Quer durch Europa sind diese populistischen Konjunkturritter anzutreffen und verbreiten Schrecken, vor allem unter den etablierten Parteien. Unter Berufung auf »das Volk« und dessen bekannt gesundes Empfinden setzen sie ihre Themen auf die Tagesordnung und vergiften mit ihrem Antiliberalismus das politische Klima.

Die neuen Volkstribunen haben ein rassistisches Weltbild Sie sickern ein ins Milieu der traditionellen Mitte, ernten Zustimmung in Teilen des Bürgertums, noch mehr im Milieu der politisch Frustrierten und Verdrossenen, die der schon genannte Berlusconi seinerzeit zu mobilisieren verstand, nämlich jene verführbaren »Millionen von apolitischen, passiven Leuten«, die der italienische Schriftsteller und Germanist Claudio Magris in Anlehnung an Karl Marx »Lumpenbürgertum« nennt.

Die Verführbaren warten auf die Verführer. Historisch betrachtet, ist das der »populistische Moment«. Die Verführbaren warten auf den Verführer. Oder, um mit dem Sozialwissenschaftler Helmut Dubiel zu sprechen: Das ist die »Stunde der Rattenfänger.« Insofern stehen die westlichen Demokratien am Eingang zu dem Tunnel, der in eine andere politische Qualität des Zusammenlebens führen dürfte.

Post-Demokratie. Die neue Ordnung am Ende dieser Reise hieße aller Voraussicht nach zwar noch Demokratie, mit der Regierungsform und der politischen Kultur der offenen westlichen Gesellschaft hätte sie aber nur noch Restfunktionen gemeinsam – Wahlen, Parteien, gelegentliche Regierungswechsel, ein bisschen Sozialstaat, viel Sicherheitskräfte, in Deutschland natürlich den Bildungsföderalismus. Im Übrigen entstünde aller Wahrscheinlichkeit nach aber jene »nachdemokratische« Welt, die Colin Crouch in seinem Buch Post-Democracy warnend beschreibt: ein formaldemokratisches Gemeinwesen mit relativ wenig Spielraum für zivilgesellschaftliche Aktivitäten und demokratischen Meinungsstreit, mit viel Effizienz, wenig diskursivem Schnickschnack und im Zweifel einer kunterbunten berlusconesken Unterhaltungsindustrie, die ihre Konsumenten gnädig betäubt.

Personenkult, Marketing, Boulevard-Journalismus. Ein Rundblick über das politische Terrain der westlichen Demokratien zeigt, dass einiges von der Mängelliste Burumas, Crouchs und anderer längst Wirklichkeit ist. Personenkult statt Programmdebatte, Marketing statt Politik, Spin-Doktorei statt Information, Info-Häppchen statt Berichterstattung, das alles ist bekannt. Zum Alltagsarsenal der Gegenwart gehören inzwischen aber auch handfeste Eingriffe in die Pressefreiheit, weitreichende Gesetzesänderungen als Reaktion auf den Terrorismus, Kurskorrekturen im Umgang mit Zuwanderern als Antwort auf wachsende Integrationsprobleme, Rechtsbeugungen, Schikanen und Übergriffe der Justizbehörden, die in der Regel ungeahndet bleiben, nicht zu vergessen die internationale Folterdebatte. Von Guantánamo ganz zu schweigen.

Schleichender Freiheitsverlust. Eine Fülle von Details, viel »Unverfängliches« darunter, manches unerlässlich, anderes nur als Antwort auf populistischen Druck verständlich. Nichts davon ist übrigens undemokratisch implantiert worden, manches wurde sogar verhindert. Dennoch sind einige der Veränderungen in den Augen etwas empfindlicherer Bürger nichts anderes als stetige kleine Freiheitsverluste, scheibchenweise abgehobelte Bürgerrechte.

Daraus könnten durchaus solche potenziellen geschichtlichen »Übergänge« werden, von denen der Dresdner Historiker Gerhard Besier in seinem Buch über die europäischen Diktaturen des 20. Jahrhunderts schreibt. Er fordert, beim Studium der Unrechtsregime auch die Übergänge zu erforschen, die vergleichsweise »unverfänglichen« Anfänge. Das deutsche Unheil hat schließlich klein angefangen, genauer gesagt: mit einer demokratischen Wahl in der Schlussphase einer Krise der Demokratie.

Kampf gegen die "politische Klasse". Alles Panikmache, das Panfaschismussyndrom der üblichen Verdächtigen von 1968? In der Tat sind Defizite der parlamentarischen Demokratie oft beklagt worden. Von »Unregierbarkeit der Demokratien« redeten schon in den siebziger Jahren die Verantwortlichen von Washington bis Bonn, Konservative wie Sozialdemokraten. Richard von Weizsäcker zum Beispiel kritisierte die Machtversessenheit der Parteien und deren »Arroganz der Macht«.

Heute aber geht es offenkundig um mehr als nur um den Ärger mit Protestbewegungen, Parteien oder Reformstaus. Zur Debatte stehen die Belastbarkeit und die Leistungsfähigkeit der Demokratien. Der in vielfältigen seriösen und oberflächlichen Umfragen gemessene Vertrauensverlust der Bürger, das sinkende Interesse an der Politik und die in den meisten Ländern sinkende Wahlbeteiligung werden zunehmend als Problem empfunden. Sie entfalten eine eigene, sich selbst beschleunigende Wirkung: Die traditionellen Parteien und die Vertreter der politischen Klasse werden insgesamt nervös, reagieren auf diese Entwicklung ängstlich, wagen sich nicht mehr an schwierige politische Themen heran und fürchten niemanden so sehr wie die Wähler. Währenddessen fühlen sich die neuen populistischen Volksverführer legitimiert, im Namen der Verführten »denen da oben« den Kampf anzusagen.

Eigeninteresse maskiert als Gemeinwohl. Erst das Wohl der Partei, dann das eigene Wohlergehen (oder auch umgekehrt), zuletzt das Gemeinwohl: Das ist der Stoff, aus dem Leute wie einst Haider, der Holländer Pim Fortuyn oder in Italien der Medienzar Berlusconi ihre Anti-Establishment-Kampagnen zuschnitten und zuschneiden. Das Material liefern die Etablierten stets selbst.


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