Die Empörung in den westlichen Medien hat sich auch Tage nach dem Bekanntwerden des Gesetzes über die ehelichen Pflichten schiitischer Frauen in Afghanistan nicht gelegt.
Nicht wahrnehmen wollen wir dabei, dass dieses Gesetz eigentlich nach Prinzipien entstanden ist, die wir - der Westen - in Afghanistan eingeführt haben und als universalen Wert bezeichnen: Die Demokratie.
Der Präsident Afghanistans, Hamid Karzai, hatte gemäss eigenen Angaben denn zunächst auch überhaupt keine Probleme, den Gesetzesentwurf, welcher das Familienleben innerhalb der schiitischen Minderheit (15%) in Afghanistan regeln soll, zu unterzeichnen.
Erst aufgrund des heftigen Aufschreis der westlichen Medien und der daraus folgende Reaktion der führenden westlichen Politiker hat Präsident Karzai beschlossen, das Gesetz noch einmal zu überprüfen.
In den westlichen Medien wird insbesondere der Passus, der das Sexualleben von schiitischen Ehepaaren regelt, herausgestrichen: In Artikel 132 des Gesetzes heißt es: "Die Frau ist verpflichtet, den sexuellen Bedürfnissen ihres Mannes jederzeit nachzukommen." (zitiert gemäss Spiegel.de) Wenn der Mann nicht auf Reisen sei, habe er mindestens jede vierte Nacht das Recht auf Geschlechtsverkehr mit seiner Frau. Ausnahmen kämen nur bei Krankheiten der Frau in Frage.
Obamas Reaktion an der NATO-Pressekonferenz vom 4. April entspricht natürlich unserem kulturellen Verständnis, zeigt aber das Dilemma: "Wir halten es für sehr wichtig, sensibel für die lokale Kultur zu sein, aber wird sind auch der Meinung, dass es gewisse Basis-Prinzipien gibt, die alle Nationen aufrechthalten sollten. Und der Respekt den Frauen gegenüber, ihrer Freiheit und Integrität, ist ein solches Prinzip."
In ähnlichem Sinne haben sich auch der britische Premier Brown und die deutsche Bundeskanzlerin Merkel geäussert. ""Wir kämpfen dafür, dass alle Menschen in Afghanistan die gleichen Rechte haben.“
Gestern kam die zu erwartende Reaktion aus der islamsichen Welt: "Der Westen nimmt in Anspruch, die Demokratie nach Afghanistan gebracht zu haben", empörte sich der einflussreiche afghanische Kleriker Mohammad Asif Mohseni gestern auch vor westlichen Kameras. "Was bedeutet denn Demokratie? Es bedeutet Regierung des Volkes für das Volk. Der Westen sollte die Bevölkerung dieses Recht nutzen lassen", sagte der Kleriker und ihre Entscheide respektieren.
Tatsächlich hat der Westen ein unangenehmes Problem, mit dem er so oder in anderer Form in nächster Zeit noch öfter, nicht nur in Afghanistan, konfrontiert sein wird: Das für unser kulturelles Verständnis inakzeptable Familien-Gesetz für die Shia-Minderheit in Afghanistan ist das Resultat eines dreijährigen Prozesses, in den nicht nur die wichtigsten islamischen Gelehrten Afganistans, sondern auch das Parlament einbezogen waren.
Mit ihrer heftigen Reaktion demonstrieren die führenden Politiker des Westens allen anderen Kulturen deutlich, was sie unter "universalen" Werten verstehen oder als "Basis-Prinzipen, die für alle" geltend machen: Unsere westlich-christlichen Werte. Und zu diesem kulturellen Wertesystem gehören eben auch die "Menschenrechte" oder die "Demokratie".
Man darf sich nicht wundern, wenn Menschen anderer Kulturen besonders irritiert sind, wenn Resultate, die unter Anwendung der vom Westen verordneten demokratischen Regeln entstanden sind, nur dann gelten sollen, wenn sie auch den vom Westen erwarteten Inhalten entsprechen.
Aus Sicht der nicht-westlichen Welt ist mit der Empörung im Westen - und dem damit verbundenen Druck auf Präsident Karsai, das Gesetz über die "Sexpflicht für Frauen" zurückzunehmen, einmal mehr offensichtlich, dass "Demokratie" oder "universale Werte" eben doch nur Instrumente sind, die die Mächtigen dieser Welt je nach Gutdünken einsetzen, um ihre Interessen durchzusetzen.
Das Dilemma für uns Westler scheint unlösbar: Wir können uns ja wohl kaum vorstellen, dass wir im Namen der Demokratie akzeptieren, dass den (schiitischen) Frauen in Afghanistan grundlegende Rechte verwehrt werden. Wir sind aber auch nicht sehr glaubwürdig, wenn wir ein Land nötigen, einen demokratisch entstandenen Entscheid zurückzunehmen, wenn er uns nicht passt. Immerhin hat die Welt auch jahrzehntelang den Entscheid des Schweizer Stimmvolkes akzeptiert, den Frauen die gleichen politischen Rechte (das fundamentale Stimm- und Wahlrecht; erst 1971 eingeführt) zu verweigern.
Vielleicht tut der Westen besser daran, seine Interessen in dieser Welt nicht mit der Ideologie unserer Werte durchzusetzen zu versuchen, sondern ungeschminkt mit dem, was schliesslich auch die gewünschten Resultate bringt: Unsere Macht. Militärisch und wirtschaftlich.
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Übrigens: Dieselbe Erfahrung mit dem Westen haben auch die Palästinenser in Gaza gemacht. Sie haben 2005 in einer demokratischen Wahl, deren Rechtmässigkeit von internationalen Beobachtern bestätigt worden war, die Hamas gewählt. Der Westen hat sich aber geweigert, mit dieser gewählten Palästinenserregierung nur zu reden. Israel hat Hamas-Gaza mit einer Blokade belegt, und der Westen hat Israel schliesslich erlaubt, gegen dieses Volk und die von ihm gewählte Regierung einen blutigen Krieg zu führen.
1 Kommentar:
Es gibt schon einen gewichtigen Unterschied zwischen der Missachtung der Wahl der Hamas und dem Entscheid zu dem afghanischen Ehegesetz. Die Hamas wurde wirklich in einem demokratischen Prozess gewählt. Da konnten auch die Frauen mitreden. Afghanistan dagegen ist noch lange keine Demokratie, auch wenn das Gesetz im Parlament eine Mehrheit bekommt. Tatsächlich haben die Frauen in Afghanistan nichts zu sagen. Das heisst aber nicht, dass der Westen so aufdrehen muss, wie das jetzt getan wird. Eben wie in der Schweiz muss die Demokratie eben wachsen. Es ist für mich eine gute Nachricht, dass afghanische Frauen gegen das Gesetz auf die Strasse gegangen sind. Und sie brauchen Solidarität. Aber nicht von Regierungschefs westlicher Staaten. Das ist gewiss kontraproduktiv.
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