Natürlich weiss ich, dass das F... - Wort im Zusammenhang mit Deutschland immer noch irritiert. Aber spätestens seit Ex-Aussenminister Joschka Fischer es im vergangenen Dezember in einem Spiegel-Artikel verwendet hat, um der aktuellen deutschen Regierung eben diese Qualität abzusprechen ("Deutschland versagt als Führungsmacht"), ist es wohl auch für einen Schweizer Beobachter enttabuisiert.
Also sprechen wir es aus: Wir - Europa und nicht zuletzt auch die Schweiz - brauchen Deutschland als Führungsmacht. Jetzt. Dringend.
Natürlich hat Europa schwer unter Deutschland gelitten, seit sich die Deutschen 1871 zu einer "Nation" vereint hatten.
Es ist aber geostrategisch und historisch eigentlich keine Ueberraschung, dass diese neue Macht mitten in Europa im Sandwich zwischen Russland und Frankreich, Probleme bereiten würde. Klar war, dass es eine schmerzhafte Entwicklung brauchen würde, bis diese neue Macht im Zentrum ihre Position und ihren Status gefunden hatte. Nach dem Ende des ersten Weltkriegs glaubten die alten Europäer - dank der militärischen Unterstützung der USA - Deutschland in die Schranken gewiesen zu haben, um nur gute 20 Jahre später erneut mit alller Gewalt mit demselben Problem konfrontiert zu werden. Und erneut war es Amerika, das die entscheidende Rolle zur Besiegung der neuen Macht in Europa spielte. Die Teilung hat Deutschland geschwächt, nicht aber seinen logischen Aufstieg
verhindert. Mit der Wiedervereinigung 1989 ist Deutschland definitiv das geworden, was seiner "natürlichen" Position in Europa entspricht: "Es besteht kein Zweifel, Deutschland ist die wichtigste Macht in Europa", akzeptiert sogar die "Internationale Politik", das Publikationsorgan der Deutschen Gesellschaft für auswärtige Politik. Nicht-deutsche Experten durften diesen objektiven Tatbestand (Wirtschaft, Bevölkerung, Geographie) schon länger aussprechen.
Und seit dem 2. Weltkrieg ist, durch die Entwicklung der EU, Deutschland auch keine Bedrohung mehr für Europa (und Frankreich). Im Gegenteil: heute braucht Europa Deutschland als Führungsmacht. Fast hätte ich geschrieben, Deutschland wäre es Europa - mit Blick auf die in der Vergangenheit verursachten Schmerzen - SCHULDIG, jetzt in der Krise und der Neuordnung der Welt, die Führung zu übernehmen. Doch das ist falsch:
Deutschland hat genug Busse getan. Es ist an der Zeit, dass die Deutschen ihr schlechtes Gewissen überwinden. Deutschland muss jetzt die sich aus seiner realen Macht ergebende VERANTWORTUNG in und für Europa übernehmen.
Deutschland soll Osteuropa vor dem Bankrott retten
Zuerst - das schreibt die Zeit in ihrer jüngsten Ausgabe eindrücklich - geht es darum, die EU in der aktuellen Wirtschaftskrise zusammenzuhalten. Der in der Schweiz zur Zeit wenig beliebte Deutsche Finanzminister, Peer Steinbrück, hat es auf den Punkt gebracht: Notfalls muss Deutschland anderen europäischen Ländern finanziellen Beistand leisten.
In seinem Zeit-Artikel "Geld für die Sünder" fordert Mark Schieretz: "Nötig ist eine Koalition zahlungskräftiger Länder, die unter Einbindung des Internationalen Währungsfonds Finanzhilfen bereitstellt. Deutschland müsste eine zentrale Rolle spielen, denn es gilt am Kapitalmarkt noch als guter Schuldner und kann sich relativ problemlos Geld borgen."
Deutschlands Macht liegt im vereinten Europa
Die Forderung Steinbrücks ist durchaus auch gesteuert vom Eigeninteresse Deutschlands, deren Banken überlebensgefährdende Verluste erleiden könnten, wenn ganze Staaten in Osteuropa Bankrott gehen. Aber Deutschland scheint heute auch zu verstehen, dass seine Stärke in einem vereinten Europa liegt.
Die Staatschefs der EU-Mitgliedstaaten ringen zur Zeit am Krisengipfel in Brüssel um Einigkeit, denn der bisherige Verlaufe der weltweiten Wirtschaftskrise hat die Schwäche Europas deutlich an den Tag gebracht: In der Not ist sich jeder selbst der Nächste. Während andere Grossmächte wie die USA oder China zentralistisch und schnell entscheiden können, sind die Entscheidungswege in der EU kompliziert und langwierig. Grund: Jede Regierung bastelt sich auf die Schnelle ihr eigenes Regierungsprogramm.
Die europäischen Staatschefs sind nicht frei von den politischen Zwängen in ihrem Heimatland - denn dort müssen sie wieder gewählt werden -, doch immer mehr scheint sich in Europa die Erkenntnis durchzusetzen, dass diese Krise nicht mit protektionistischen Alleingängen gemeistert werden kann. Und da muss Deutschland als Führungsmacht vorangehen, eben zum Beispiel mit einer namhaften finanziellen Unterstützung Ungarns, Polens, Litauens oder Serbiens. Notfalls auch ohne die Hilfe der EU-Partner.
Finanzminister Steinbrück als Retter der Schweizer Banken?
Nebenbei: Eine solche Finanzhilfe für Osteuropa würde nicht zuletzt auch unsern Schweizer Banken viel nützen. Bei einem Bankrott einer oder mehrerer Osteuropäischer Banken müssten wir riesige Abschreiber machen, weil ein grosser Teil der Schulden dieser Länder Fremdwährungskredite in Schweizer Franken sind. Ironischerweise könnte es also gerade der in der Schweiz gehasste deutsche Finanzminister Steinbrück sein, der den Schweizer Banken aus ihrer überlebensbedrohlichen Not in Osteuropa heraushilft.
Deutschland muss sich von den USA emanzipieren
Nur wenn sich Europa in dieser Krise als Einheit beweist, wird es trotz Finanzkrise fähig sein, im aktuellen Kampf um die neue Weltordnung eine bedeutende Rolle zu spielen. Und auch dabei käme Deutschland eine zentrale Rolle zu. Allerdings müsste Deutschland noch lernen, seine Rolle als europäische Führungsmacht zu spielen, also die gemeinsamen Interessen der EU gegenüber den USA und China, den beiden anderen wichtigen Blöcken der neuen Weltordnung, zu vertreten.
Insbesondere gegenüber den USA wird sich Deutschland emanzipieren müssen. Erste Versuche machte Bundeskanzlerin Merkel im letzten Herbst, als sie offen gegen die US-Pläne für eine Erweiterung der NATO auf die Ukraine und Georgien eintrat. Das hat den Amerikanern damals mächtig Eindruck gemacht.
Inzwischen scheint sich zu verdeutlichen, dass Europa aufpassen muss, nicht in den Sog einer neuen amerikanisch-russichen Eiszeit zu geraten. Europa und speziell Deutschland ist nicht nur noch einige Jahre von den Gaslieferungen Russlands abhängig, auch die Geschichte zeigt, dass es nicht zuletzt im Interesse Deutschlands ist, Ruhe an der Ostfront zu haben.
Offensive Mittelmeer/Nahost: Weniger Israel, mehr Türkei
Befreien muss sich Deutschland auch von seiner einseitigen Israelpolitik. Hier ist die Ueberwindung des in der Geschichte liegenden Schuldgefühls noch schwieriger, aber spätestens der jüngste Gazakrieg hat gezeigt, dass die aktuelle Politik Israels den Interessen Europas, ein rasches Einvernehmen mit der islamischen Welt, im Weg steht. Deutschland wird sich ab sofort nicht nur Richtung Westen und Osten orientieren müssen, sondern vermehrt auch Richtung Süden, zum Mittelmeer, inklusive seiner nördlichen und östlichen Anrainer. Deutschland könnte da von der Erfahrung und den Beziehungen Frankreichs profitieren. Als wichtigster Partner aber bietet sich die Türkei an. Man hat schon eine grosse "gemeinsame Bevölkerung", also starke emotionale, aber auch wirtschaftliche Verbindungen. Vor allem aber kann - und wird wohl - die Türkei im Nahen und Mittleren Osten eine zentrale Rolle spielen. Es liegt in den Händen Europas und speziell Deutschlands, dass die Türkei gleichzeitig zu seinen eigenen, auch die Interessen Europas wahrnimmt.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen