Donnerstag, 7. Juni 2012

Die Türkei als Ordnungsmacht in Nahost und die Christenfrage

Völkermord in Armenien 1915 - 1922
Der Abzug der USA aus dem Irak droht die Machtverhältnisse in Nahost, wie sie seit dem Rückzug der Türken, respektive dem Zerfall des osmanischen Reichs vor 100 Jahren geherrscht haben, grundsätzlich zu verändern. Um den definitiven Aufstieg des Iran als neue Führungsmacht im "alten Orient" doch noch zu verhindern, setzt der Westen, speziell die USA, auf die alten Machthaber der vorwestlichen Ordnung in Nahost: die Türken.

Das Modell, das den Nahen Osten künftig stabilisieren und weiter in der westlichen Einflusssphäre halten soll, heisst: ein moderner, säkulärer Islam unter der Führung der Türkei. Sozusagen die Pax Ottomanica reloaded. Und die Türken wollen diese Rolle noch so gerne übernehmen. Sie spielen öffentlich sogar schon mit dem Gedanken, auch militärisch in der Region zu intervenieren. Kurzfristig in Syrien. (Gestern abend auch thematisiert bei Anne Will, ARD).

Ich habe hier auf Contextlink schon mehrfach meiner Sympathie für die moderne Türkei Ausgedruck gegeben. Für das, was sie schon heute ist, bei allen offensichtlichen Mängeln. Vorallem aber für das, was wir uns von ihr in Zukunft erhoffen. Aber wir müssen vorsichtig sein. Die Türkei ist sicherlich „gut unterwegs“ auch gemessen an unseren Massstäben, aber es gibt doch noch viele Probleme, die man nicht einfach unter den Tisch kehren kann. Das Kurdenproblem oder die Pressefreiheit oder die krasse soziale Ungleichheit oder ... . 
Eine ganz besondere Leiche stinkt jetzt immer lauter aus dem Keller der modernen Türkei: Der Völkermord an den Armeniern zwischen 1915 und 1922 – inklusive die Massaker an den ebenfalls christlichen Assyrern und andern nicht-muslimischen Minderheiten.

Prof. Taner Akçam, türk. Historiker
Gestern war ich beim Referat von Professor Taner Akçam bei der Christian Solidarity International in Zürich. Er ist einer der wenigen türkischen Historiker, die es wagen, offen über den Völkermord der Türken an den Armeniern vor knapp hundert Jahren zu reden. Vorallem aber legt er in seinem neusten Buch „The YoungTurks Crime Against Humaity. The Armenian Genocide and Ethnic Cleansing in the Ottoman Empire“ Belege dafür vor, dass die türkische Regierung den Völkermord sogar von langer Hand systematisch geplant hat.
Sein Vortrag gestern war manchmal etwas wirr, aber die 100 Jahre alten Telegramme der türkischen Regierungsbehörden, die er als Beleg für seine Aussagen vorlegt, scheinen schon sehr überzeugend.
Seine wichtigste These neben dem Nachweis der sytematischen Planung ist die "Zwangs-Assimilierung".
(Wer sich die Zeit nehmen kann/will, kann sich dazu sei Referat vor der National Association for Armenian Studies and Research in Belmont USA hier ansehen.)

Was mich aber motiviert hat, zu seinem Vortrag in Zürich zu gehen, sind Akçams Aussagen im Tagesanzeiger vom 7. Juni 2012 (leider online nicht verfügbar) zum Zusammenhang der alten Genozidfrage mit der künftigen Rolle der Türkei in Nahost:
Wenn die Türkei künftig in Nahost tatsächlich als „Vermittler und Modell eines demokratische-islamischen Staates“ auftreten wolle, müsse es EINE Voraussetzung erfüllen: 
"Das Vertrauen der Christen in der Region gewinnen. .... Ohne deren Unterstützung kann die Türkei nicht zur Lead-Nation im Nahen Osten aufsteigen. ... Dass heisst, dass die Armenienfrage geregelt werden muss.“

Professor Akçam hat das Thema in seinem Vortrag in Zürich nicht angesprochen. In der anschliessenden Fragerunde habe ich ihn dann aber gebeten, mehr dazu zu sagen. Er war vorsichtig und scheint skeptisch, nicht nur wegen der Christen: Für die Menschen in der Region (Naher Osten, Libanon, Syrien, Irak, etc.) seien die Türken immer noch einfach "die Türken". Die ehemaligen Herrscher, die sich im Verlaufe ihrer Herrschaft über die arabischen Welt vom einst "modernen" osmanischen Modell unter anderem mit einer relativ liberalen Haltung gegenüber andern Religionen immer mehr zu einem intoleratne Unterdrückerregime wandelten, um sich dann zum Ende noch gründlich die Hände mit einer Vielzahl von Massakern blutig zu machen.

Die recht zahlreich beim Vortrag in Zürich anwesenden Armenier und Assyrer haben nachgehakt: „Haben sie eine Idee, wie wir je wieder mit den Türken in Frieden zusammen leben können?“ Ein Assyrer aus Anatolien sagte, er sei zwar erst 50 Jahre nach dem Massaker der Türken an seinen Vorfahren geboren, aber auch er könne die Schreie der Massakrierten noch immer hören.

Professor Akçam hat die Emotionen ausgehalten und mit einem weisen Satz geantwortet, der nicht nur für die Genozidäre in der Türkei gilt: „Am Anfang eines Versöhnungsprozesses steht die Anerkennung der Schuld.“

Die Nachkommen der beinahe ausgerotteten Christen von Anatolien bis in den Irak und nach Syrien hoffen jetzt, endlich Genugtuung und vielleicht gar materielle Entschädigungen für die Verbrechen des türksichen Staates vor 100 Jahren zu erhalten. Nicht weil die Türken jetzt wirklich einsichtig wären, sondern weil sie es aus Opportunismus tun, sozusagen als Eintrittsgeld für die Übernahme der neuen-alten Rolle als Führungsmacht in Nahost.

Doch ich fürchte, dies ist ein Illusion. Ausser in Armenien selbst gibt es heute nicht mehr viele Christen im "alten Orient". Zumindest nicht so viele, dass sie den Türken bei ihrer „Rückeroberung“ des Nahen Ostens wirklich im Weg stehen könnten.
(Einen hervorragenden, erschreckenden Überblick über die Geschichte der (syrischen) Christen im Nahen und Mittleren Osten gibt das Buch von John Philip Jenkins: "The Lost History of Christianity")
Meine kurzen Gespräche mit anderen Interessierten und offenbar gut Informierten an der Veranstaltung gestern in Zürich haben meine Einschätzung bestätigt - und sogar einer der Exponenten der chrsitlichen Organisation war dieser Meinung:

Der Westen braucht die Türken in Nahost als Ordnungsmacht und als Modell für einen säkulären, modernen Islam. Die Christen sind bloss noch eine Randnotiz. Vielleicht werden sich die Türken sogar nach 2015 dazu durchringen, eine Art Anerkennung ihrer historischen Schuld zuzugestehen. Am 24. April 2015 jährt sich der Deportationsbefehl der Jungtürken zum hundertsten Mal. Aber eine Voraussetzung für die neue geo-strategische Rolle der Türkei in Nahost ist das nicht. 

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